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Die masurischen Farben: blau - weiß - rot
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Auf dem Lötzener Bahnhof
herzlich willkommen geheißen: Masuren, die aus dem Reich zur Abstimmung angereist
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Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen
vom 11. Juli 1920
„Das ganze Volk blickt voll Stolz auf die Masuren und Ermländer“
Das Referendum verbesserte nicht nur das Selbstbewusstsein
der Ruhrmasuren und deren Ansehen bei den „Hiesigen“, sondern auch deren Vernetzung
in der neuen Heimat
von Dieter Chilla
Nicht nur im südlichen Ostpreußen, sondern auch im
Ruhrgebiet schlug die Nachricht von den Gebietsansprüchen Polens auf Masuren wie
eine Bombe ein. In Gelsenkirchen, Herne, Bochum und den anderen Städten zwischen
Dortmund und Duisburg sowie Emscher und Lippe war die Mehrheit der dort ansässigen
Bevölkerung noch im südlichen Ostpreußen, der Landschaft mit dem Namen Masuren,
geboren. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann der Zustrom von Menschen
aus den masurischen Kreisen Osterode, Neidenburg, Ortelsburg, Johannisburg, Lötzen,
Lyck und Rastenburg in die Orte des rheinisch-westfälischen Industriebezirks. Nach
Gelsenkirchen war der Zuzug besonders intensiv. Vor allem Menschen aus dem Kreis
Ortelsburg sammelten sich hier in so großer Zahl, dass die Stadt bald den Beinamen
„Klein Ortelsburg“ erhielt.
Die Vorstellung, dass ihre Heimat in Zukunft ein
Teil des polnischen Staates sein sollte, erschien ihnen vollkommen wirklichkeitsfremd,
zumal die meisten von ihnen zu den sogenannten Ruhrpolen keinen Kontakt fanden,
umgekehrt auch nicht. Zu groß waren die Unterschiede im konfessionellen Bereich,
in der nationalen Orientierung und in der Lebensführung. Ihre Fremdheit in Preußen
wurde auch von den Polen so wahrgenommen, denn etwa zwei Drittel von ihnen verließen
nach der Neugründung des polnischen Staates 1919 das Gebiet zwischen Lippe und Emscher
und suchten vor allem in den nunmehr zu Polen gehörenden oberschlesischen Kohlegruben
Brot und Lohn.
Der große Saal des Neustädter Vereinshauses
wurde neben sechs anderen Gelsenkirchener Vereinshäusern zur Zentralstelle für die
Vorbereitung der abstimmungswilligen Ost- und Westpreußen im Ruhrgebiet. Für das
Rheinland wurde eine ähnliche Institution in Düsseldorf eingerichtet. Insgesamt
sind allein in der Gelsenkirchener Stelle die Anträge von rund 73.000 stimmberechtigten
Ostpreußen aus dem Großraum Ruhrgebiet eingerichtet worden. Allein aus Gelsenkirchen
(ohne die erst 1928 eingemeindeten Kommunen Buer und Horst) fuhren also 73.000 Menschen
in ihre masurische Heimat.
Für das Jahr 1920 liegen keine konkreten Angaben
über die Einwohnerzahl Gelsenkirchens vor. Bekannt ist jedoch, dass 1900 die Einwohnerzahl
die Grenze von 100.000 überschritt und Gelsenkirchen zur Großstadt wurde. Die Zahl
der Reisewilligen macht nicht nur deutlich, wie hoch der Bevölkerungsanteil der
Südostpreußen an der Gesamteinwohnerschaft der „Stadt der tausend Feuer“ war, sondern
auch, welcher massive Wille in den Menschen steckte, das südliche Ostpreußen nicht
zu einem Teil des neu entstandenen polnischen Nationalstaates werden zu lassen.
„Klein Ortelsburg“
Dieses Unternehmen wurde spürbar von der „hiesigen“
Bevölkerung des Ruhrgebiets unterstützt. So waren nicht nur zahlreiche verwaltungstechnisch
geschulte ehrenamtliche Kräfte zur Erledigung der administrativen Angelegenheiten
nötig, es wurden auch Pflegekräfte für Kinder benötigt, deren Eltern allein zur
Abstimmung fuhren. Eine Mitnahme von Kindern war bestenfalls bei Säuglingen möglich,
da die polnische Regierung die Anzahl der Züge durch den sogenannten Korridor bewusst
klein hielt. Zwar bot sich auch der Seeweg an, doch wurde der nur von einer Minderheit
genutzt, da er organisatorisch aufwendig und für die überwiegend von der Arbeit
im Bergbau lebenden Menschen zu teuer war. Durch Behinderungen der Transporte und
die mitunter formalistische Bearbeitung von Seiten der polnischen Behörden trafen
einige tausend Abstimmungsberechtigte aus dem Ruhrgebiet nicht mehr rechtzeitig
in ihren Geburtsorten ein.
Am 11. Juli, dem Tag der Abstimmung, formulierten
sie ihren Unmut über diese Praktiken unter Federführung von Dr. Zumhorst, dem Leiter
des Statistischen Amts Gelsenkirchen, an die Reichsregierung. Am 13. Juli veröffentlichte
die „Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung“ diesen Protestbrief: „Die im Saale des
Evangelischen Vereinshauses in Gelsenkirchen-Altstadt versammelten über 2000 heimattreuen
Ost- und Westpreußen, die durch äußere Umstände verhindert waren, an der Abstimmung
in der Heimat teilzunehmen, erheben hiermit feierlichen Einspruch gegen die Schikanen
und Hindernisse, die den zur Ostmark reisenden Deutschen von den Polen bereitet
worden sind. Sie finden es schmachvoll, dass die maßgeblichen deutschen Stellen
nicht in der Lage waren, wirksame Gegenmaßnahmen zu treffen …“
Einzug ins Stadtparlament
Die Stimmung besserte sich erheblich, als das Abstimmungsergebnis
bekannt wurde: So entschieden sich von 1699 Ortschaften 1695 und von den Stimmberechtigten
363.209 gegen 7980 für den Verbleib in der Provinz Ostpreußen und damit im Deutschen
Reich. Für die in der Emscherregion lebenden Ruhrmasuren stellte dies die öffentliche
Bekundung ihrer „deutschen Gesinnung“ dar.
Diese Anerkennung wurde unter anderem dadurch deutlich,
dass die „Buersche Zeitung“ am 13. Juli 1920 folgendes Telegramm des aus der SPD
stammenden Reichspräsidenten Friedrich Ebert veröffentlichte: „Das ganze Volk blickt
voll Stolz auf die Masuren und Ermländer, das Land, in dem ein so gewaltiges Bekenntnis
zum Festhalten an das Deutsche Reich am 11. Juli abgelegt hat. Ich bitte Sie, allen
Bewohnern des Abstimmungsgebietes den Dank des Deutschen Reiches und meinen Dank
zu übermitteln. Zu dem schönen Erfolg trug nicht zum Mindesten ihre umsichtige Vertretung
der deutschen Interessen sowie die aufopferungsfreudige Tätigkeit des Heimatdienstes
und die der Bezirksstelle Allenstein angeschlossenen Heimatvereine des Masuren-
und Ermlandbundes bei. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen allen zu der Arbeit zum Wohle
des ganzen deutschen Volkes meinen Dank auszusprechen.“
Dieses Abstimmungsergebnis mit seiner öffentlich
wirksamen Honorierung in der breiten Öffentlichkeit stärkte nicht nur das Selbstbewusstsein
der Ruhrmasuren, es führte auch zu einer Kontaktnahme der „Landsleute“ über die
Grenzen der jeweiligen Zechenkolonien hinaus. Schnell bildeten sich zahlreiche landsmännische
Vereine, die sich am 24. Februar 1924 in Hagen zum „Rheinisch-Westfälischen Hauptverband
heimattreuer Ost- und Westpreußen“ zusammenschlossen. Bisher waren die Südostpreußen
nahezu ausschließlich in Vereinen organisiert, die in der Nähe der evangelischen
Kirche beziehungsweise der ostpreußischen Gebetsvereine angesiedelt waren. Bei der
Hagener Vereinigung handelte es sich um eine Organisation auf säkularer Grundlage,
zu deren Zielen auch die Durchsetzung explizit politischer Ziele gehörte.
Mit etwa 22.500 Mitgliedern in 141 Ortsgruppen war
allein schon quantitativ eine bedeutsame Lobby geschaffen worden. Dass die Vereinsarbeit
sich nicht mit bloßen Forderungen begnügte, zeigt die Folgeentwickung: So trat bereits
bei den Gelsenkirchener Kommunalwahlen am 4. Mai 1924 eine Partei mit der Bezeichnung
„Ost- und Westmärkischer Wirtschaftsbund“ an. Wenngleich man hinter der Bezeichnung
eine „Wirtschafts“-Vertretung vermuten könnte, handelte es sich in Gelsenkirchen
um eine Organisation, welche die gemeinsamen Interessen der dort ansässigen Masuren
zu vertreten beabsichtigte. Insgesamt konnte diese Partei 3167 Stimmen auf sich
vereinigen und erhielt damit zwei Sitze im Gelsenkirchener Stadtparlament. Dieses
Ergebnis erhält seinen Stellenwert jedoch im historischen Kontext, denn 15 oder
20 Jahre eher wäre ein derartiges Engagement von Masuren in den „weltlichen“ Organisationen
kaum möglich gewesen: weder vor dem Hintergrund ihrer durch Religiosität geprägten
Weltsicht noch durch die bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend fehlende Akzeptanz
durch die westfälischen „Pohlbörger“.
Fortan gehörte man dazu
Die Abstimmung vom Juli 1920 trug dazu bei, den Damm
zu brechen. Die Ruhrmasuren gehörten fortan dazu und nahmen zunehmend führende Positionen
ein, nicht nur im Fußball. In Masuren selbst hatten sich die Turbulenzen der Abstimmungszeit
gelegt, Frieden war eingekehrt. Ein trügerischer Frieden indes, der nur bis zum
1. September 1939 andauerte, als die Wehrmacht in polnisches Gebiet einmarschierte,
auch an der Grenze zwischen Masuren und Polen.
Ruhrmasuren
73.000 Menschen fuhren aus Gelsenkirchen, das
erst seit 1900 mehr als 100.000 Einwohner hatte, zur Volksabstimmung nach Masuren.
22.500 Mitglieder in 141 Ortsgruppen zählte
der Rheinisch-Westfälische Hauptverband heimattreuer Ost- und Westpreußen.
3.167 Stimmen erhielt bei den Gelsenkirchener Kommunalwahlen
am 4. Mai 1924 der Ost- und Westmärkische Wirtschaftsbund.
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