Das Schicksal von Millionen für Millionen Fernsehzuschauer
Die ARD versucht mit einem Zweiteiler
Deutsche für das Thema »Flucht und Vertreibung« zu interessieren von Ruth Geede
Es ist so weit: Am 4.
März bringt das Erste den mit Spannung erwarteten ersten Teil des
ARD-Zweiteilers „Die Flucht“, der zweite Teil folgt am 5. März, jeweils ergänzt
durch begleitende Dokumentationen. Da es sich um einen Spielfilm handelt, der in
rein fiktionaler Darstellungsweise das Schicksal der Vertriebenen auf den
Bildschirm bringt, sind die dokumentarischen Ergänzungen auch notwendig, um das
Thema der Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen aus ihrer Heimat auch
informativ zu durchleuchten – oder wenigstens dies zu versuchen. Es ist aber
schon vorauszusehen, daß diese TV-Produktion die ganze Skala der Emotionen, die
heute noch offen oder unterschwellig vorhanden sind, bis zur höchstmöglichen
Breite auffächern und Anlaß für rege Diskussionen geben wird.
Das kündigt sich
bereits in dem Begleitheft zu dem Zweiteiler an, in dem einer der Produzenten,
Nico Hofmann, erklärt: „Die Flucht wird kontroverse Diskussionen schon allein
deshalb auslösen, weil das Thema extrem politisiert und weil geschichtslose
Betrachtung immer und grundsätzlich auch eine sehr persönliche Angelegenheit ist
– jeder hat hier seine eigene Wahrnehmung von Geschichte, vor allem diejenigen,
die sie selbst erlebt haben, und jedes Lager beansprucht seine eigene
Geschichtsbetrachtung.“
Für die Produzentin
Gabriela Sperl war es bei der Projektierung von vornherein klar, daß dieses
Thema fast in jede deutsche Familie hineinreicht. „Ein sensibler Stoff, über den
oftmals Jahrzehnte geschwiegen wurde.“ Jetzt wurde er also aufbereitet – wie,
das läßt nach Durchsicht des Begleitheftes zwischen Skepsis und Hoffnung
schwanken. Günter Struve, Programmdirektor des ARD-Fernsehens, erklärt in seinem
Vorwort, daß die Aufarbeitung des Geschehenen heute nicht mehr so ideologisch
belastet sei. Ursachenforschung anhand historischer Fakten und die Schicksale
der Menschen stünden mittlerweile im Fokus der Betrachtung.
Ein – fiktives –
Schicksal trägt die Handlung des Spielfilms. Das der Lena Gräfin von Mahlenberg,
die 1944 in ihre Heimat Ostpreußen zurückkehrt, die sie acht Jahre zuvor nach
der Geburt ihrer unehelichen Tochter verlassen hatte. Sie hatte sich damals
gegen die von ihrem Vater gewollte Ehe mit Heinrich Graf von Gernsdorff
entschieden – jetzt wäre sie doch zu einer Heirat bereit, zumal sie die
Verantwortung für den Familienbesitz übernehmen muß. Doch die Heirat wird durch
einen Selbstmord in der Familie ihres Verlobten verhindert. Lena spürt eine
wachsende Zuneigung zu einem französischen Kriegsgefangenen, der ihr zur Seite
steht, als die Front näher kommt und Lena mit den Gutsleuten auf die Flucht
geht, während der Vater die Heimat nicht verlassen will. Der Treck schlägt sich
bis Bayern durch, wo dann nach der Kapitulation für Lena ein neues Leben
beginnt. Soviel in groben Zügen die Handlung, in deren Mittelpunkt die große
Flucht steht – jener Teil also, der auf das Thema Vertreibung aufmerksam machen
soll. Natürlich kann man diskutieren, ob dieses Kapitel deutscher Geschichte
durch die Einbindung in eine romanhafte Handlung verseicht, ja, sogar verkitscht
werden kann, und das wird auch sicher nach der Ausstrahlung geschehen.
Immerhin wurde mit der
Rolle der Lena eine Schauspielerin betraut, die diese Bedenken minimieren kann.
Sie ist in jeder Hinsicht die ideale Besetzung für diese Frau, die volle
Verantwortung für die ihr übertragenen Pflichten trägt und sie zu bewältigen
versucht. Sie selber sagt dazu: „Für mich war es ein Glück, diese Rolle spielen
zu dürfen, in diese Welt einzutauchen, die mich schon lange beschäftigt hat.
Eine Welt mit einem ganz anderen Wertekanon, als wir das heute kennen. Ein
bißchen davon hat das auf mich auch beim Drehen abgefärbt. Wir waren auf dem
Haff bei minus 15 Grad Kälte und mir fror in den Reitstiefeln und den
Lederhandschuhen so nach und nach alles ein, mir war zum Heulen, und am liebsten
wäre ich aus dem Treck ausgeschert, um mich aufzuwärmen. Doch dann wurde mir
bewußt, wie die Menschen damals zu Hunderttausenden in diesen Trecks waren, ohne
heißen Tee, ohne Aussicht auf ein warmes, trockenes Bett am Abend, wochenlang in
den gleichen feuchten Kleidungsstücken und ohne ein wirkliches Ziel vor Augen.
In diesen Augenblicken habe ich mich für meine Empfindlichkeit geschämt. Das
waren Momente, in denen mir der Riesenunterschied bewußt wurde zwischen dem
Erzählen einer rein fiktionalen Geschichte und einem Film, der das Schicksal von
Millionen Deutschen erzählt. Ich spürte, welche Verantwortung das mit sich
bringt! Es war für mich die bisher schauspielerisch herausfordendste Arbeit.“
Das hat Maria Furtwängler bereits Millionen Zuschauer spüren lassen, die sie als
Gast von Thomas Gottschalk in „Wetten daß ...“ erlebten. Der Moderator hatte,
als er auf den Film zu sprechen kam, in seiner lockeren Art das Thema Flucht
etwas heruntergespielt, als er von seinen schlesischen Tanten sprach, aber die
Schauspielerin wies ihn auf die zwölf Millionen Deutschen hin, deren
Vertriebenenschicksal in der Verfilmung sichtbar und nachvollziehbar gemacht
wird. Auch für Menschen, die sich bisher nie damit beschäftigt haben, hier und
weltweit.
Die Ernsthaftigkeit,
mit der die Schauspielerin ihren Part übernahm und erfüllte, bekam auch unsere
Mitarbeiterin Anita Motzkus zu spüren. Es war bei den Dreharbeiten in Litauen,
wo die Ostpreußin als „Dialogcoach“ fungierte, sie sollte also darauf achten,
daß bei den Darstellern der Flüchtlinge das ostpreußische Idiom hörbar wurde.
Das war so gekommen: Ursprünglich sollte ich diese Aufgabe übernehmen, konnte es
aber nicht wegen der Kurzfristigkeit des Termins und bat Anita, mit der ich seit
Jahrzehnten verbunden bin, für mich einzuspringen. Das hatte auch noch andere
Gründe: Die aus dem Kreis Gerdauen Gebürtige hatte sich als Kind nach
mißlungener Flucht mit ihren kleineren Geschwistern bettelnd durchschlagen
müssen. Sie konnte also aus eigener bitterer Erfahrung berichten und berichtigen
und fand besonders in Maria Furtwängler eine interessierte Zuhörerin. Und diese
Tätigkeit hatte Folgen. Anita Motzkus wirkte im weiteren Verlauf der
Dreharbeiten nicht nur als Komparsin mit, sie wurde auch als Protagonistin für
die Dokumentation „Flucht der Frauen“ ausgewählt, die an den ersten Teil des
Spielfilms am 4. März um 23 Uhr im Ersten gesendet wird. Drei Frauen berichten
von ihrem Schicksal: Elisabeth Baronin von Maltzan (93 Jahre) aus Schlesien, die
Ostpreußin Vera von Lehndorff (67 Jahre) und die gleichaltrige Anita Motzkus.
Sie berichtet, wie ihre Mutter von den Russen verschleppt wurde und sie als
Fünfjährige die Verantwortung für ihre noch kleineren Geschwister übernahm –
drei kleine „Wolfskinder“, die durch Litauen zogen, um Eßbares zum Überleben zu
finden. Beinahe wäre sie von einer kinderlosen Litauerin adoptiert worden, aber
die sagte: „Du bist blond, und ich habe schwarze Haare, das geht doch nicht!“
Als eines Tages ein Onkel wie aus dem Nichts auftauchte, stellte er fest: „Kind,
was ist denn mit dir los! Du bist ja in den letzten vier Jahren gar nicht
gewachsen!“ Erst als wie durch ein Wunder die Mutter aus sibirischer
Gefangenschaft zurückkehrte, wuchs die Tochter wieder. Der Autor Christian
Wagner, der für den BR und SWR diese Dokumentation geschaffen hat, sagt dazu:
„Dieser Film will dazu beitragen, diesen lange vernachlässigten Teil der
deutschen Vergangenheit zurückzuführen in die deutsche Gegenwart. Eine lange
tabuisierte Erinnerung könnte damit zum Teil einer möglichen Zukunft für das
gesamte Deutschland werden.“
Auch die Dokumentation
„Hitlers letzte Opfer – Flüchtlinge am Ende des Zweiten Weltkriegs“, die nach
dem zweiten Teil der „Flucht“ am Montag, 5. März um 21.45 Uhr gesendet wird,
soll das in dem Film in die Spielhandlung eingebettete Geschehen historisch
ausleuchten. Sie knüpft an die ARD-Reihe „Die Vertriebenen“ an, die Millionen
Fernsehzuschauer bewegte. Das Thema Flucht und Vertreibung wird hier an den
Beispielen Königsberg, Lodz, Breslau, Prag und Brünn demonstriert.
Daß dieser das erste
Märzwochenende im Ersten Deutschen Fernsehen dominierende Zweiteiler Millionen
Zuschauer ansprechen wird, ist voraussehbar. Wie die Reaktionen ausfallen
werden, aber nicht, da sprechen die persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse mit.
Zumal auch das vorliegende Infoheft zur Sendung einige Passagen enthält, die vor
allen Dingen die Vertriebenen in das Licht der „Revanchisten“ rückt. So ist im
Vorwort zu lesen: „Das Kapitel ‚Flucht und Vertreibung‘ von Deutschen aus
Ostpreußen, den ehemaligen deutschen Ostgebieten, dem Sudetenland und aus Teilen
des heutigen Südosteuropas hat in Deutschland lange Zeit polarisiert: auf der
einen Seite die der Heimat beraubten Vertriebenen mit ihren oftmals lautstarken
Verbänden, die ein ‚Recht auf Heimat‘ reklamieren. Bis heute wird von einzelnen
Vertriebenen die Rückgabe verlorenen Eigentums oder wenigstens Entschädigungen
eingefordert. Auf der anderen Seite diejenigen, die den Vertriebenen jegliche
Ansprüche mit Verweis auf eine angeblich historische Kollektivschuld der
Deutschen verweigern.“ Wir dürfen gespannt auf das Echo sein!
Etwas Positives muß
aber schon gesagt werden. Der Zweiteiler hatte als Arbeitstitel „Flucht und
Vertreibung“. Zum Glück hat man keinen dramatisch klingenden Titel gewählt,
sondern es einfach dabei belassen: „Die Flucht“.
Sendetermine: „Die
Flucht“, ARD: 1. Teil Sonntag, 4. März, 20.15 Uhr. 2. Teil Montag, 5. März,
20.15 Uhr. Dokumentationen: „Die Flucht der Frauen“, 4. März, 23 Uhr, „Hitlers
letzte Opfer“, 5. März 21.45 Uhr
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