Erster Weltkrieg:
Vom Sonderweg abkommen

Im nun beginnenden Jahr 2014 wird sich zeigen, was außerhalb Deutschlands jeder weiß: Es gibt keinen europäischen Geschichtskonsens, keine große Erzählung von Europa, unter der die Nationen sich gleichberechtigt versammeln und die eine Grundlage für ein europäisches Staatsvolk schaffen könnte. Der Erste Weltkrieg, der vor 100 Jahren ausbrach und vor 96 Jahren endete, wird – jedenfalls in der Breite – nach wie vor aus nationalen Sichtweisen betrachtet und bewertet. Das mag bedauerlich und veränderungswürdig sein, aber es ist die Ausgangslage.

Die Deutschen als geschichtspolitische Musterschüler sind vor 50 Jahren, seit der sogenannten Fischer-Kontroverse ab etwa 1962, in Vorleistung getreten, indem sie für sich die Allein-, wenigstens aber die Hauptschuld am Kriegsausbruch 1914 reklamierten. Eine Phalanx in Wissenschaft und Medien hält daran fest. Kanzlerin Angela Merkel sprang ihr bei, als sie am 11. November 2009 nach Paris reiste, um mit dem französischen Präsidenten den Jahrestag des Kriegsendes 1918 zu feiern. Sie sagte: „Wir werden nie vergessen, wie sehr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Franzosen durch Deutsche zu leiden hatten.“ So verschwindet der Erste Weltkrieg im Schwarzen Loch der Mystifikationen, die sich um den Zweiten gebildet haben.

Neben der Beflissenheit und Einäugigkeit, die deutschen Politikern, Historikern und Journalisten eigen ist, spielt der Wunsch eine Rolle, die anderen Länder durch Selbstkasteiung zu beeindrucken, auf daß sie sich zum erheuchelten Ausgleich bereitfinden, der als „Versöhnung“ bezeichnet wird.

Eine hochkomplexe Gemengelage

Erzherzog Franz Ferdinand mit Gemahlin Sophie Chotek von Chotkowa kurz vor der Ermordung:
Eine hochkomplexe Gemengelage. - Foto: Wikipedia / Karl Tröstl mit CC-Lizenz

Nur denken die ehemaligen Kriegsgegner gar nicht daran, ihre nationale Geschichtsmythologie deshalb abzuändern. Zwar ist auch bei ihnen das Zeitalter des Nationalismus vorbei, doch werden sie das Jubiläum zur kollektiven Selbstvergewisserung nutzen und sich und die Welt daran erinnern, wer den Krieg gewonnen und wer ihn verloren hat. Das muß nicht böse gemeint sein.

In Frankreich, Großbritannien und Italien heißt der Weltkrieg nicht umsonst der „Große Krieg“. Die Verwüstungen in Nordfrankreich waren enorm, und bis heute gemahnen Denkmäler noch in den kleinsten Dörfern des Südens an den Blutzoll, welche die männliche Jugend des Landes zahlte. Für Großbritannien markiert das Jahr 1914 den Anfang vom Ende seines stolzen Empires.

Zum Umfeld des Krieges gehören die Pariser Vorortverträge, die das besiegte Deutschland knebelten und in Mittel- und Südosteuropa mehrere Klein- und Kunststaaten installierten, die sich wegen der programmierten Nationalitätenkonflikte zu kontinentalen Eiterherden entwickelten. Diese hochkomplexe Gemengelage aber läßt sich weder aus der schuldzentrierten deutschen noch aus der Siegerperspektive zusammenhängend erfassen.

Mächtige Schneisen in das geschichtspolitische Gestrüpp

Französische Soldaten versuchen eine deutsche Stellung in Flandern zu stürmen:
Stoff nationaler Geschichtsmythologie der Sieger. - Foto: Wikipedia

Im Vorfeld des Jubiläums sind eine Reihe Bücher erschienen, die mächtige Schneisen in das geschichtspolitische Gestrüpp schlagen, in dem bundesdeutsche Historiker und Politiker sich seit 50 Jahren verfangen. Christopher Clarks „Schlafwandler“ rollen den Kriegsausbruch vom Balkan her auf. Von deutscher Haupt- oder gar Alleinschuld bleibt da nichts übrig. Ähnlich der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, einer der wenigen Denker in der Bundesrepublik, die sich mit geopolitischen Problemen beschäftigen. In seinem Opus „Der Große Krieg“ legt er dar, daß die Gegensätze zwischen den europäischen Großmächten eskalierten, weil sie nicht imstande waren, die Konflikte an der Peripherie des Kontinents zu befrieden.

Zu nennen ist das Buch „Der Weg in den Abgrund“, mit dem Konrad Canis seine vorzügliche Trilogie zur Außenpolitik des Deutschen Kaiserreichs abschließt. Canis zeigt sehr genau die beschränkte politische Ratio auf, der die europäischen Schlafwandler jeweils folgten und die sich unbeabsichtigt zum großen Chaos summierte. Diese Bücher stellen Fragmente für eine mögliche europäische Großerzählung dar. Sie dürfte nicht danach fragen, wer „schuld“ am Ersten Weltkrieg war, weil der Begriff eine moralische Anklage oder Verurteilung einschließt, sondern müßte nüchtern den „Beitrag“ eines jeden Landes dazu feststellen.

Leider handelt es sich bei der Bundesrepublik, dem Herzland Europas, um einen pathologischen Fall. Fritz Fischers Schuld-Dogma herrscht zwar nicht uneingeschränkt, doch es wirkt lähmend. Fischer hatte mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ keinen Schlüssel geliefert, um die Geschichte des Weltkriegs zu verstehen. Er sorgte jedoch für ein reines Gewissen, indem er dessen unmittelbare und ferne Folgen für Deutschland legitimierte: Wenn das Deutsche Reich am Krieg die Alleinschuld trug, dann hatten die Deutschen keinen Grund, sich über den Versailler Vertrag zu beklagen, und die innenpolitische Radikalisierung, die in der nationalsozialistischen Machtergreifung mündete, war einzig und allein ihrer Verstocktheit zuzuschreiben.

Eine Traumwelt aus angehäufter Schuld

Die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war dann nichts anderes als ein Konglomerat angehäufter Schuld. Deren Ergebnisse waren weniger ein politisches als ein moralisches Problem, das man löste, indem man die Teilung, den Verlust der Ostgebiete und die Vertreibungen als gerechte Strafe akzeptierte. Das ergab eine Geschichtstheologie, welche die Bundesrepublik in die beste aller möglichen Welten versetzte.

Es war und ist eine Traumwelt. Längst gibt es starke Argumente, um eine gesamteuropäische Erzählung zu formulieren. Sie hätte davon auszugehen, daß kein einziges Land in Europa den Weltkrieg gewonnen hat, sondern daß alle ihn im globalen Maßstab verloren haben. Andernfalls wird die gemeinsame Niederlage von 1914/1918 sich als das Menetekel des finalen Zusammenbruchs erweisen.


Über Thorsten Hinz
1962 in Mecklenburg geboren, studierte Germanistik in Leipzig. Er war 1995/96 Politik- und 1997/98 Kulturredakteur der JF und arbeitet seither als freier Autor in Berlin. 2004 wurde er mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten ausgezeichnet.
 
 

Quelle:
JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co., Geschichte, 05.01.2014,
http://jungefreiheit.de/wissen/geschichte/2014/vom-sonderweg-abkommen/