"Grenzen der Aufnahmefähigkeit"
Erika Steinbach fordert eine Flüchtlingspolitik "mit Herz und Verstand"
Nicht alle Menschen, die nach Deutschland kommen, werden bleiben können: Erika Steinbach sieht Deutschland nicht als klassisches Einwanderungsland. Die Bundestagsabgeordnete und langjährige Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen wirbt im Interview mit katholisch.de um Verständnis für die Ängste von Bürgern angesichts von immer mehr Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen.
Frage: Frau Steinbach, Ihr Parteifreund, Bundesinnenminister Thomas de Maizière, schätzt, dass bis zum Jahresende 800.000 Menschen in Deutschland Asyl suchen werden. Ist das ein Problem für Deutschland?
Erika Steinbach: 800.000 Flüchtlinge wären fast doppelt so viele wie beim bisherigen Höchststand Anfang der Neunzigerjahre. Die Kommunen können eine solche Zahl nicht auf Dauer verkraften. Deutschland nimmt derzeit mehr als 40 Prozent aller Flüchtlinge in der EU auf. Hier müssen wir auf europäischer Ebene schnell zu einer fairen Verteilung kommen. Sonst hat das derzeitige System der offenen Grenzen keine Zukunft mehr. Und es ist erforderlich, dass alle EU-Länder endlich die Vereinbarung von Dublin und Schengen einhalten. Kaum noch ein Land hält sich an die gemeinsam vereinbarten Regeln.
Frage: Ist Deutschland ein Einwanderungsland?
Erika Steinbach: Unser Land ist kein "klassisches" Einwanderungsland wie die USA, Australien oder Kanada, die schon lange um Zuwanderer aktiv geworben haben. Das hat sich inzwischen auch dort geändert. Es gelten strenge Zuzugsregeln. Flüchtlinge haben zum Beispiel in Australien praktisch keine Chance, ins Land zu kommen. Wir brauchen und wir haben in Deutschland über das Asylrecht hinaus interessensgeleitete Zuwanderungsregeln.
Frage: Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki hat kürzlich gesagt, man müsse Balkanflüchtlinge ohne Bleibeperspektive nach deutschem Asylrecht konsequent abschieben. Wie beurteilen Sie diese Äußerung?
Erika Steinbach: Dem stimme ich zu. Nicht alle Menschen, die zu uns kommen, werden bleiben können. Unser Asylrecht ist ein hohes Gut. Es soll den Menschen helfen, die aufgrund von politischer Verfolgung ihres Heimatlandes Zuflucht in Deutschland suchen. Eine solche Verfolgung findet jedoch auf dem Balkan nicht statt, deshalb kann es nach dem Asylgesetzt keine Anerkennung geben. Hinzu kommt, dass die Anzahl der Asylsuchenden aus dem Balkan mehr als die Hälfte aller Asylanträge ausmacht und Ressourcen und Plätze bindet, die für Menschen mit existierenden Asylgründen fehlen.
Deutschland leistet schon jetzt im Vergleich zu anderen Staaten sehr viel. Bleiben können nur diejenigen, die tatsächlich verfolgt sind. Wir können nicht diejenigen aufnehmen, die allein aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen, so sehr dies im Einzelfall verständlich ist. Wir müssen unsere Ressourcen auf die konzentrieren, die unsere Hilfe am dringendsten benötigen. Ansonsten wird die Akzeptanz des Asylrechtes bei unseren Bürgern vernichtet.
Frage: Kardinal Woelki hatte zugleich ein Einwanderungsgesetz gefordert, das auch Menschen vom Balkan eine legale Zuwanderung ermöglicht. Ein solches Gesetz wird derzeit aber gerade von den christlichen Volksparteien verhindert. Warum?
Erika Steinbach: Die ganze Debatte über ein Einwanderungsgesetz erweckt den Eindruck, als hätte Deutschland hier ein gesetzgeberisches Defizit. Dem ist aber nicht so: Es gibt bereits legale Zuwanderungsmöglichkeiten wie zum Beispiel die "Blue Card" für Fachkräfte. Durch die Beteiligung an mehreren Resettlementprogrammen konnten auch vor allem Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, aber auch aus Eritrea aus humanitären Gründen einreisen.
Deutschland kommt seiner menschenrechtlichen Verantwortung bereits mehr als die meisten EU-Länder nach. Nicht außer Acht darf man die hohe Zahl arbeitsloser Jugendlicher in der EU lassen. Bevor wir Zuwanderung aus Ländern außerhalb der EU überhaupt ins Auge fassen, müssen wir den arbeitslosen Jugendlichen in der EU bessere Chancen geben und diese Potentiale ausschöpfen.
Frage: In den vergangenen Tagen mussten wir bedrückende Bilder aus Sachsen sehen. Unterstützt die Union mit ihrer Weigerung, Deutschland als Einwanderungsland zu bezeichnen, nicht diese neue Fremdenfeindlichkeit?
Erika Steinbach: Die Bilder aus Sachsen sind in der Tat eine Schande für unser Land. Gewalt ist nie akzeptabel
– weder zwischen Flüchtlingen wie in Suhl, noch gegen Flüchtlinge wie jetzt in Sachsen. Das hat aber nichts mit unserer innenpolitischen Diskussion, ob wir ein Einwanderungsland sind, zu tun. Wichtig ist, dass wir Ängste unserer Bürger nicht zur Seite wischen, sondern bestehende Ängste ernst nehmen. Auf Dauer werden die Menschen Zuwanderung dieser Größenordnung nur dann mittragen, wenn sie den Eindruck haben, dass Sie geregelt und nicht chaotisch erfolgt. Wer unfähig oder unwillig ist, die Grenzen der Aufnahmefähigkeit in unserem Land zu sehen, der gießt Öl in das Feuer gewalttätigen Denkens.„
Wer unfähig oder unwillig ist, die Grenzen der Aufnahmefähigkeit in unserem Land zu sehen, der gießt Öl in das Feuer gewalttätigen Denkens.“Frage: Millionen Deutsche haben im vergangenen Jahrhundert Flucht und Vertreibung erlebt – darunter viele ehemalige DDR-Bürger. Welche Lehren müssen wir aus unserer eigenen Geschichte für die aktuelle Situation ziehen?
Erika Steinbach: Die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen aus Mittel-, Osteuropa ist in seiner Dimension bis heute singulär. Es kamen entwurzelte und traumatisierte Deutsche zu Deutschen. Dennoch war das erzwungene, neue Miteinander nicht einfach. Das können wir mit den heutigen Flüchtlingsströmen aus anderen Kulturkreisen kaum vergleichen. Wichtig war und bleibt immer: Jeder Mensch der hierhergekommen ist, muss menschenwürdig behandelt werden, auch wenn er das Land wieder verlassen muss.
Frage: Die christlichen Kirchen positionieren sich eindeutig an der Seite der Flüchtlinge. Welche Rolle spielt das für Sie und Ihre Politik?
Erika Steinbach: Die Union steht, wie die unionsgeführte Bundesregierung in ihrer Politik deutlich macht, an der Seite der Flüchtlinge und Verfolgten. Deutschland ist bei der humanitären Hilfe für die Flüchtlinge im Nahen Osten unter den größten internationalen Gebern. Wir unterstützen die Nachbarstaaten über Mittel aus der Entwicklungszusammenarbeit dabei, die Flüchtlinge in der Region zu betreuen. Und wir nehmen in Europa mit weitem Abstand die meisten Flüchtlinge auf. Aber zu glauben, das Elend von inzwischen 60 Millionen Flüchtlingen weltweit unterschiedlicher Volksgruppen ließe sich in Deutschland beheben, wäre naiv und verantwortungslos. Wir brauchen eine Flüchtlingspolitik mit Herz und Verstand.
Frage: Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der europäischen Völker wieder aufgebaut, später haben Gastarbeiter unsere Industrie gestützt. Wie wichtig werden Einwanderer in Zukunft für Deutschland sein?
Erika Steinbach: Deutschland hat sich schon weitgehend durch unendlichen Fleiß seiner eigenen Bürger aus Trümmern und Elend wieder hochgearbeitet. Dazu haben die mittellosen und völlig verarmten vertriebenen Landsleute wesentlich beigetragen. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass Bayern von einem Agrarland zu einem prosperierenden Wirtschaftsstandort wurde. Die Gastarbeiter haben später das ihre dazu beigetragen. Für die Zukunft sollten wir unbedingt etwa erforderliche zusätzliche Arbeitskräfte durch Qualifizierung der eigenen Menschen, die derzeit am Rande der Gesellschaft stehen, gewinnen und bei Bedarf aus unserem riesigen europäischen Arbeitskräftereservoir schöpfen.
Zur Person:
Erika Steinbach ist Sprecherin für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Bis 2014 war sie die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen.
Quellen: |