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Kolberg: Zeitreise in eine deutsche Tragödie Daß für viele Polen die Eroberung der Stadt Kolberg und die damit verbundene Vertreibung der Zivilbevölkerung aus ganz Ost-Pommern nach wie vor etwas Gutes, etwas Christliches darstellt, wurde auch im vergangenen Jahr wieder bei den Feiern zum 18. März deutlich. Neben zahlreichen kleineren Veranstaltungen wurde in zwei großen Feiern des Jahrestages gedacht: Zum einen mit einem Appell auf dem Soldaten-Friedhof, zum anderen mit der Einweihung der neuen Garnisonskirche. Kolberg, 17. März 1997 Die Gefallenenehrung fand am Vorabend zum 18. März auf dem Soldatenfriedhof, auf dem die Polen ihre Helden beerdigt hatten, statt. Zu dem Anlaß erschienen viele Abordnungen der alten Kombattanten in Uniform sowie auch aktive Soldaten und Vertreter von Stadtverwaltung und Kirche. Der Feldgeistliche der Kolberger Garnison, der Pfarrer Janusz Bak, knüpfte an die Kriegsereignisse von vor 52 Jahren an. Er betete für die polnische Angreifer, die bei der Einnahme der starken Festung Kolberg umkamen. Die alten Soldaten gedachten ihrer Kriegskameraden, die gefallen waren. Anschließend ehrten auch Vertreter von Polizei, der Stadtverwaltung, der Wojewodschaft – an der Spitze der Wojewode von Köslin, Jerzy Mokrycki – die polnischen Kämpfer. Vor dem Gefallenendenkmal wurden viele Kränze und Blumensträuße niedergelegt. Wichtig ist dabei, daß man die heutige polnische Darstellung der Ereignisse beachtet: Im März 1945 trug zwar objektiv die Rote Armee die eigentliche Hauptlast des Angriffs, aber sie wurde von einem Teil der polnischen Weichsel-Armee, der "Grupa Armii Wisla", und hier besonders von der polnischen 4. Baltischen Division, unterstützt. Heute betonen die Polen etwas überproportional ihren Anteil am Sieg. Ja, sie gehen fast sogar soweit, der Roten Armee nur noch eine Statistenrolle zuzuweisen, die eigentliche Kraft bei der Eroberung Pommerns und Kolbergs waren nun offenbar die polnischen Verbände. Der zweite Höhepunkt bei den letztjährigen Vertreibungsfeiern war die Einweihung der Garnisonskirche, die ebenfalls am Vorabend zu jenem 18.März stattfand. Der Feldgeistliche, Bischof General Leszek Slawoj Glodz, weihte in Kolberg anläßlich des 52. Jahrestages der Kämpfe die St. Macieja Apostell-Kirche. An der feierlichen Messe nahmen der Kommandeur der 8. Baltischen Division, Generalmajor Mieczyslaw Cieniuch, sowie weitere Vertreter von Militäreinheiten und Wojewodschafts- und Stadtverwaltungen teil. Während der Messe wurde für die polnischen Soldaten gebetet, die bei der Eroberung Kolbergs gefallen waren. Dabei betonten sowohl Bischof Leszek Slawoj Glodz als auch Generalmajor Mieczyslaw Cieniuch, daß die polnischen Soldaten mit der Eroberung und der Deportation der deutschen Zivilbevölkerung etwas Gutes und Christliches geleistet hätten. Am nächsten Tag herrscht in Kolberg schönes Frühlingswetter. Kolberg, 18. März 1997 Wir starten zu unserer Wanderung durch die Hafenstadt. Neugierig fragen wir gleich den Parkplatz-Wächter, etwa knapp zwanzig Jahre alt: Ob er denn wisse, warum heute geflaggt sei? Er antwortet, daß man heute die Befreiung Kolbergs feiere, aber ihn persönlich interessiere das alles nicht so. In der Stadt ist überall geflaggt. Auf der Promenade begrüßt uns frisches Ostseeklima. Wir treffen dort auch deutsche Touristen – junge wie alte. Keiner der Deutschen, den wir ansprechen, weiß um die Bedeutung des heutigen Tages. Erst als wir unsere Gesprächspartner, junge Rucksacktouristen, auf die Beflaggung aufmerksam machen, stutzen sie. 18. März 1945 – Eroberung – Vertreibung – Gedenkfeiern – so ungefähr lautet ihre Gedankenkette. Und schließlich ihr Fazit: "Wußten wir nicht, aber wir müssen jetzt weiter", und sie winken desinteressiert ab. Natürlich ist heute auch das polnische Siegesdenkmal "Die Vermählung mit dem Meer" geschmückt. Früher fanden hier öffentliche Jubelfeiern statt, bei denen die polnische Fahne ins Ostseewasser getaucht wurde – symbolischer Ausdruck dafür, daß hier das Polentum in Form von polnischen Kampfwagen 1945 nach Jahrhunderten wieder das baltische Meer erreicht habe. Auf dieses martialische Schauspiel wird neuerdings verzichtet. Warum, weiß eigentlich keiner so recht. Eindrucksvoll ist die Begegnung mit dem Hafen und der Mole. Hier war es also, hier spielten sich im März 1945 jene entsetzlichen Szenen ab. Heute liegt der Hafen ruhig da; unübersehbar sind die vielen Ausflugsdampfer. Weiter hinten liegen auch einige Boote der polnischen Wasserschutzpolizei. Ein markanter Punkt ist der Leuchtturm an der Hafenausfahrt. Ein wuchtiger, roter Backsteinbau, eher breiter Festungsturm denn schlanker Leuchtturm. Heute schmücken ihn polnische Inschriften. Zwei Widmungen preisen die Taten der polnischen Soldaten vom März 1945. In der einen, die direkt am Festungsturm angebracht ist, wird an die polnischen Seeleute erinnert, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren. Eine zweite Widmung ist in der Nähe des Turms an der Festungsmauer zu lesen. Die Übersetzung lautet: "Zur Würdigung der polnischen Soldaten, die bei der Verteidigung der Freiheit der polnischen Heimat gefallen sind." In der Nähe des Hafens entstehen derzeit komfortable Eigentumswohnungen. Der Bau ist schon weit fortgeschritten. Im Anblick der alten Häuser, der Baulücken und der Neubauten versucht man sich ein Bild zu machen von jenen verzweifelten Stunden im März 1945. Zigtausende von Zivilisten wollten über den Hafen entkommen – und es sollte ihnen gelingen. Die Gedanken schweifen ab, wie war es damals – im März 1945? Kolberg, 1. März 1945 – Ein neuer Kommandant Wehrmachtsoberst Fullriede wird zum neuen Kommandanten für Kolberg eingesetzt. Die katholische Ordensschwester Godehardis St. Martinsbad in Kolberg berichtet in ihrem noch im April 1945 niedergeschriebenen Manuskript: "Kolberg stand schon seit Monaten im Zeichen der immer näher kommenden Front. Aufgeregte Stimmung überall." Die Stadt Kolberg, die rund 35.000 Einwohner zählt, wurde rasch zum Sammelbecken; innerhalb weniger Tage war die Stadt auf über 85 000 Einwohner angeschwollen. Die Zufahrtsstraßen lagen bereits unter Artilleriebeschuß, die Züge, soweit sie noch fuhren, waren überfüllt. Schwester Godehardis erinnert sich: "Das Massenelend ostpreußischer Flüchtlinge erhöhte die Panikstimmung in Kolberg." Am 3. März erhält Fegattenkapitän Kolbe, der zuständige Marineoffizier beim Wehrbezirkskommando Kolberg, den Befehl für den Abtransport der Zivilbevölkerung über See. Kolberg, 4. März 1945 – "Der Kessel ist zu" Die letzten Züge verließen die Stadt in den frühen Morgenstunden des 3. März. Schwester Godehardis notiert in ihrem Bericht: "Sonntag, den 4. März morgens um 4 Uhr ging ein Flüstern durch die Reihen: ,Der Kessel ist zu, es kommt kein Zug mehr durch.’" Oberst Fullriede will die Stadt halten, damit die Zivilisten über den Seeweg gerettet werden können. Ihm standen etwa 3200 Männer zur Verfügung – darunter teils reguläre Wehrmachtssoldaten, teils Volkssturm, teils jugendliche Militärhelfer. Den deutschen Verteidigern gegenüber stand ein Mehrfaches an russischen und polnischen Soldaten. Bei der Marine hat Fregattenkapitän Kolbe den ersten Konvoi zusammengestellt. Auch in den bereits vergangenen ersten Märztagen hatten immer wieder Frachter, Dampfer und Boote aller Größen Flüchtlinge gen Westen transportiert. Doch am 4. März startet der erste organisierte Schiffsverband mit insgesamt 2200 Flüchtlingen. In diesem Takt sollte es nun jeden Tag weitergehen. Noch am 4. März bricht in der Stadt auch die Versorgung mit Strom, Gas und Wasser zusammen. Der Wehrmachtssoldat Ernst-August Dumtzlaff, der selber aus Hinterpommern stammt, hat jene Tage miterlebt und seine Erlebnisse später niedergeschrieben: "Nun stehe ich hier an der Panzersperre in der Körliner Straße in Kolberg, die Gedanken gehen zurück an den Marsch auf der Straße nach Kolberg." Kolberg, 5. März 1945 Soldat Dumtzlaff liegt mit zwei Kameraden auf Posten im letzten Haus der Körliner Straße, es ist am äußersten Rand der Festung. Im Haus gegenüber sind ebenfalls deutsche Soldaten. Plötzlich geschieht in den frühen Morgenstunden etwas Unerwartetes. Statt der Russen taucht ein Flüchtlingstreck auf, heil kommt er an der Absperrung vorbei. Wenige Augenblicke später: Lautes Krachen – die sowjetische Artillerie feuert in die Stadt. Der Beschuß wird heftiger, auch die deutschen Panzersperren am Stadtrand werden ins Visier genommen. Die Häuser werden mehrfach getroffen. Erstmals tauchen noch in sicherer Entfernung auch sowjetische Panzer auf, die durch die deutsche Artillerie beschossen und wieder vertrieben werden. Das feindliche Feuer wird noch stärker. "Wir rechneten jeden Augenblick mit einem sowjetischen Infanterieangriff", so Dumtzlaff. Dann geht es los: Die Russen greifen an, deutsches Abwehrfeuer schlägt sie zurück. Doch kurz danach der zweite Angriff. Die Panzersperre war inzwischen erheblich getroffen worden. "Ringsherum die Einschläge der Granaten, das Krachen einstürzender Häuserwände. Die Hölle war ausgebrochen. Unter dem Schutz des Granathagels griff der Feind erneut an. Am Nachmittag gelang es den Russen, die Panzersperre zu erobern. Der Häuserkampf begann", schreibt der Augenzeuge. In den nächsten Tagen sollte in den Straßenzügen erbittert um jedes Haus gekämpft werden. Auch der Soldat Ernst-August Dumtzlaff hat diese schweren Stunden erlebt: "In der Nacht zogen wir uns um einige Häuser zurück. Der Frontverlauf war sehr undurchsichtig geworden. Von See hörten wir Abschüsse schwerer Artillerie, es war wohl die uns zugesagte Marineunterstützung eingetroffen. Wir faßten wieder etwas Mut. Es entbrannte der Häuserkampf in unerbittlicher Härte. Unter Androhung von Gewalt mußten wir deutsche Zivilisten aus ihren Kellern holen." Trotz des Beschusses gelingt es an diesem Tag, etwa 5 000 Flüchtlinge über den Seeweg gen Westen zu transportieren. Kolberg, 12. März 1945 Am frühen Morgen ertönt aus Lautsprechern erneut die sowjetische Aufforderung nach Aufgabe des Kampfes. Landser Dumtzlaff berichtet, daß erstmals polnische Soldaten auftauchten, die in die Stadt eindringen wollten. Sanitäter, Ärzte und Schwestern haben alle Hände voll zu tun. Das Lazarett ist voll belegt. Die beiden Chirurgen vermögen kaum ihre Arbeit zu tun, einmal operieren sie 52 Stunden nacheinander, notiert Schwester Godehardis. Die Verwundeten und das Sanitätspersonal erleben hautnah, wie die Front Meter für Meter dichter kommt. Den Höllenlärm der Stalinorgel, das Heulen der Granaten und das Geknatter der Maschinengewehre, all das ist auch im Lazarett gut zu hören. Kolberg, 15. März 1945 Festungskommandant Fullriede hat die Lage noch unter Kontrolle, noch hält die Hauptkampflinie. Da die Stadt nun fast von allen Flüchtlingen geräumt ist, befiehlt er, daß in der Frühe die Schwerverwundeten abtransportiert werden sollen. Alles klappt, die Verwundeten, das Lazarettpersonal und die Ordensschwester werden von einer Fähre zum deutschen Zerstörer "Panther" gebracht. Die Ordensschwestern vom Martinsbad werden auf Umwegen über Rügen am 20. März in der Morgenfrühe ihr Mutterhaus im Münsterland erreichen. Kolberg, 18. März 1945 In der Nacht zum 18. März bereiten sich alle noch in Kolberg verbliebenen Wehrmachtssoldaten, Matrosen, Volkssturmmänner und alle sonstigen Verteidiger auf die Evakuierung vor. Der Abtransport der Zivilisten ist abgeschlossen. Oberst Fullriede sieht nach der Rettung der Zivilisten seine Ausgabe als erfüllt an und befiehlt den Rückzug. Nachdem es in den Morgenstunden des 18. März mehrfach falschen Alarm gegeben hat, nähern sich Boote sowohl der Mole auch einem offenen Strandabschnitt, der sogenannten Maikuhlenseite. Dort nimmt ein Boot Matrosen und Volkssturmmänner an Bord und rauscht mit Volldampf wieder auf die hohe See zurück. Das Molengelände liegt jetzt unter schwerstem Beschuß. "Was sich hier abspielte war unbeschreiblich. Jeder wollte der erste sein. Von der Mole führten nur schmale Stege zur Anlegestelle des Bootes. Auch durch den Gefechtslärm hörte man die Hilfeschreie durch die Nacht." Soldat Dumtzlaff wird gerettet. Das Boot bringt ihn an Bord eines deutschen Zerstörers. "Die feindlichen Batterien versuchten mit ihren Geschossen den deutschen Zerstörer zu erreichen. Alle Einschläge lagen zu kurz. Der Zerstörer selbst legte sein Vernichtungsfeuer auf die Stellungen des Feindes." Der völlig erschöpfte pommersche Soldat schläft an Bord sofort ein. Insgesamt retten die Boote in den frühen Morgenstunden rund 2000 Verteidiger. 350 deutsche Soldaten gelingt jedoch der Rückzug nicht mehr, sie müssen sich in Gefangenschaft begeben. Oberst Fullriede will mit seinem Stab erst möglichst spät die Stadt verlassen. Zum Schluß, als die polnischen und sowjetischen Infanteristen bereits den Hafen und die Mole erobert hatten, führt er den ihm verbliebenen Haufen noch von einem Befehlsstand vom Strand aus. Doch bald gibt es auch hier kein Halten mehr, Fullriede und die letzten Männer retten sich mit einem Schlauchboot auf die Ostsee. Kolberg, 18. März 1997 Genau 52 Jahre ist das jetzt alles her. Die großen schönen Gebäude aus der deutschen Gründerzeit lassen eine Ahnung vom einstigen Glanz des Kurortes aufkommen. Im mächtigen Gotteshaus von Kolberg, der Marienkirche, finden an diesem Tag die gewöhnlichen Gottesdienste statt, nichts besonderes. Zahlreiche an den Backsteinpfeilern im Kircheninnern angebrachte Gedenktafeln geben Zeugnis von dem Geschichtsbild der heutigen Polen in Kolberg. Eine Tafel fällt sofort auf. Zur Erinnerung an die Gefallenen der IV. Baltischen Division der polnischen Armee. Die Veteranen teilen mit, daß die Kameraden für die Verteidigung der polnischen Heimat gefallen seien. War also Kolberg schon vor 1939 polnisch, wußten die deutschen Bürger das – leider – schlicht nicht? Wenige Jahre nach dem polnisch-deutschen Freundschaftsvertrag von 1991 erklären die polnischen Veteranen noch einmal, daß sie das Recht hatten, deutsche Zivilisten zu vertreiben und zu erschießen. Gedenkt denn auch heute noch kein Pole des Leides der unschuldigen Vertriebenen? Wir suchen in der Kirche weiter. Viele Gedenktafeln erinnern an polnische Soldaten, an bedeutende Kirchenmänner, an den Wiederaufbau der Kirche. Schließlich werden wir doch fündig: Eine neue Metallplatte aus dem Jahr 1990 erinnert an die Deportierten nach Kriegsende. Wir lesen und staunen. Gemeint sind nicht die Deutschen, gemeint sind jene polnischen "Neubürger" in Kolberg, die 1946/47 von den Handlangern des stalinistischen Terrors nach Sibirien verschleppt wurden. Das Mitgefühl der Polen gilt offenbar ausschließlich ihnen selber. Wir verlassen den Mariendom. Enttäuscht und verbittert wenden wir uns von dem heutigen Kolberg ab. Welch ein Ende für die einst schöne Hafenstadt. Kolberg – polnische Heimat, nun wieder mit dem Mutterland vermählt. Welch eine Lüge, aber keiner bestreitet sie, alle tun so, als wenn es ganz normal sei.
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