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    Vorstandspodium 
    des Vertriebenenbundes 1959: 
    Nur zwei Funktionäre ohne NS-Hintergrund (Bild: Christiane Zschetzschingck 
    dpa) 
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     "Hut ab" zur Aufarbeitung der Vergangenheit  | 
    
     
    
    
      
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     Bund der Vertriebenen: Neun von elf 
    Funktionären hatten in 50er-Jahren NS-Hintergrund 
     Michael Wolffsohn im 
    Gespräch mit Dieter Kassel | 
   
 
Der Historiker Michael Wolffsohn begrüßt, dass 
der Bundesverband der Vertriebenen seine Vergangenheit hat aufarbeiten lassen. 
Dass so viele Präsidiumsmitglieder NS-belastet gewesen seien, überrasche ihn 
nicht.  
Dieter Kassel: 
Als 1958 das erste Präsidium des Bundes der Vertriebenen zusammentrat, da hatten 
nur zwei der elf Mitglieder keine NS-Vergangenheit. So lautet eines der 
Ergebnisse der Studie "Funktionäre mit Vergangenheit". Der Bund der Vertriebenen 
hat diese Studie selbst in Auftrag gegeben, der Historiker Michael Schwartz vom 
Institut für Zeitgeschichte hat sie federführend verfasst. Und am Telefon 
begrüße ich jetzt dazu Michael Wolffsohn. Er ist emeritierter Professor für 
Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München und unter anderem 
Gründer der Forschungsstelle Deutsch-Jüdische Zeitgeschichte. Schönen guten Tag, 
Herr Wolffsohn! 
 
Michael Wolffsohn: Guten Tag, Herr Kassel! 
 
Kassel: Welchen Erkenntnis- oder 
Neuigkeitswert hat denn für Sie diese Studie? 
 
Wolffsohn: Neuigkeitswert eigentlich gar 
nicht. Ich wäre überrascht, wenn es weniger NS-Belastete im Bund der 
Vertriebenen gegeben hätte. Aber machen wir uns nichts vor, es betrifft doch 
diese Frage in Bezug auf die NS-Vergangenheit nicht nur den Bund der 
Vertriebenen, sondern praktisch jede Organisation, die nach 1945/49 in der 
Bundesrepublik gegründet wurde. Adenauer hat das mal auf den Punkt gebracht: Das 
waren die Menschen, die wir hatten, andere gab es nicht! Das ist das 
Grundproblem gewesen und das Wunder der Bundesrepublik besteht darin, dass es 
eine so vorzüglich arbeitende Demokratie wurde. 
 
Kassel: Mit ... Vorwurf ist vielleicht zu viel 
gesagt, aber mit der Bemerkung, das sei ja nicht überraschend und auch nicht 
anders als woanders, ist Michael Schwartz, der Autor der Studie, ja auch schon 
konfrontiert worden. Und er antwortet darauf dann eben, na ja, das sehe er nicht 
so, denn immerhin habe seine Studie ergeben, dass in keiner anderen Institution 
der frühen Bundesrepublik so viele Nazis in Führungspositionen gewesen wären wie 
beim BdV. 
 
Wolffsohn: Auch da ist die Frage von 
"viele" eine Frage der Bewertung. Wir wissen aus anderen Studien etwa, 
Auswärtiges Amt und so weiter, und dann sollten wir mal auf den Makrobereich 
schauen: Meine Studien haben ergeben, dass 52 bis 53 Prozent wohlgemerkt der 
Deutschen, aller Deutschen, überzeugte zumindest Mitläufer des 
Nationalsozialismus gewesen wären. Also, das ist eine Richtgröße, und dann gibt 
es natürlich individuelle Ausschläge, zum einen. Zum anderen, dass im Bund der 
Vertriebenen bei den Vertriebenen überhaupt eher Rechtslastige zu finden waren, 
ist auch keine große Überraschung, denn die Grundannahme, die für die 
Bundesrepublik Deutschland galt - ich sag's mal, modern und bezogen auf den 
Nahostkonflikt etwa, Land für Frieden -, galt lange Zeit für die Vertrieben 
nicht.  
 
Das ist wiederum aber einzuschränken, denn vergessen wir nicht, dass bereits 
1950 die Vertriebenen auf die Anwendung von Gewalt verzichtet haben! Und wenn 
wir das in den historisch-internationalen Zusammenhang stellen, dann ist das 
beachtlich. Vergleichen Sie mal diese Position der deutschen Vertriebenen etwa 
mit den Palästinensern. Also, das muss man alles sehr differenziert sehen. Und 
ich sage nur: Hut ab, dass Frau Steinbach und ihr Verband den Mut hatten, eine 
solche Studie in Auftrag zu geben und die Vergangenheit aufarbeiten zu lassen. 
 
Kassel: Ja, das ist ja so ein bisschen 
dieses Motto, was auch für die von Ihnen schon erwähnten anderen Studien der 
letzten Jahre gilt, besser spät als nie. Aber ich frage mich immer, Herr 
Wolffsohn, diese späte Aufarbeitung, hat die nicht auch einen Beigeschmack? Sie 
findet ja immerhin dann statt, wenn alle Protagonisten ja überwiegend tot, 
zumindest ohne Funktion sind, sie können sich nicht mehr wehren. Drehen wir den 
Stiefel um: Man kriegt auch keinen großen Ärger mehr mit solchen 
Veröffentlichungen. 
 
Wolffsohn: Völlig richtig. Aber diese 
zustimmungspflichtige, würde ich schon sagen, Aussage hat auch eine andere 
Seite, und zwar nicht nur der Akteure - tot oder lebendig -, die untersucht 
werden, sondern auch bezogen auf die Historiker. Da wäre die Frage zu stellen, 
warum kommen denn meine Kollegen so spät auf den Gedanken, Verbände dieser Art 
einmal mehr anzusehen? Ich nenne Ihnen dafür einen der Gründe: Weil auch viele 
der mehr oder weniger progressiven Kollegen mit Lehrmeistern zu tun hatten, 
unter ihnen, mit ihnen arbeiteten, die auch - vorsichtig formuliert - 
NS-belastet waren.  
 
Ein Paradebeispiel für diese Aussage ist Hans-Ulrich Wehler, sicherlich kein 
linker Historiker, sondern eher ein links ... kein rechter Historiker, sondern 
ein linksliberaler. Er war Schüler und Günstling von Theodor Schieder, der nicht 
nur NS-belastet war, sondern dunkelbraun gewesen ist. Und warum kamen er und 
seine Kollegen und Freunde niemals auf die Idee, einmal näher nachzuschauen, was 
dieser Herr gemacht hat? Also, auch hier, in Bezug auf die Aufarbeitung der 
eigenen Zunft, haben die Historiker versagt. Also, ja, es ist sehr spät, aber 
das betrifft nicht nur die Akteure, sondern das betrifft auch die Historiker, 
auch die Medien, die beispielsweise ohne Mühe das alles hätten aufarbeiten oder 
vorrecherchieren können. Also, wenn schon beurteilen und verurteilen, dann aber 
ganzheitlich! 
 
Kassel: Aber aus dem, was Sie sagen, 
könnte man auch folgern: Der Grund, dass der BdV diese Studie so spät in Auftrag 
gegeben hat - der Auftrag erging 2007 -, könnte man schließen, da gab es vorher 
auch noch genug Leute, die kein Interesse an so einer Studie hatten! 
 
Wolffsohn: Aber natürlich, das bestreite 
ich ja nicht. Umso besser, dass es Frau Steinbach jetzt gemacht hat. Aber das 
Gleiche ... Wie gesagt, wir müssen hier nicht mit, wir dürfen nicht mit 
zweierlei Maß messen. Das, was Sie sagen, ich stimme dem zu! Aber dann müssen 
Sie selbstkritisch als Historiker - ich habe über diese Felder nicht gearbeitet, 
man kann nicht alles bearbeiten -, dann muss sich die Historikerzunft, dann 
müssen sich auch die Journalisten die Frage stellen: Warum haben wir nicht 
recherchiert? Das hätte man locker herausbekommen können, auch ohne Dokumente, 
so intensiv auszuarbeiten, wie das der Kollege Schwartz vom Institut für 
Zeitgeschichte getan hat. Da hätten auch mündliche Interviews gereicht. - Nein, 
nein, also, nur mit dem Zeigefinger auf andere zu weisen, das ist nicht 
besonders hilfreich. 
 
Kassel: Sie haben zum Anfang unsere 
Gesprächs gesagt, Herr Wolffsohn, Neuigkeitswert hat das für Sie keinen großen. 
Folgert daraus umgekehrt, es macht eigentlich auch historischer Sicht auch gar 
nicht mehr viel Sinn, das jetzt aufzuarbeiten? 
 
Wolffsohn: Oh doch, wir wollen doch 
wissen, was war. Und das Interessante ist doch dann auch, wie sich eine 
Organisation weiterentwickelt hat, egal ob das der Bund der Vertriebenen oder 
der ADAC oder ein großes deutsches Unternehmen ist. Natürlich wollen wir das 
wissen, müssen wir das wissen. Ob das das Hauptthema ist, das ist eine andere 
Frage. Auch da muss man wiederum jetzt in Bezug auf die Forschungsschwerpunkte 
berücksichtigen, dass die Aufarbeitung des Dritten Reiches zunächst einmal auf 
der obersten Ebene angefangen hat, naturgemäß! Adolf Hitler war interessanter 
für die Aufarbeitung als irgendein Vertriebenen-Funktionär! 
 
Kassel: Die Frage ist aber auch immer, 
wenn man so eine Studie auch noch selbst in Auftrag gibt und hat dann die 
Ergebnisse, wie geht man damit um? Ich möchte mal Erika Steinbach wörtlich 
zitieren an dieser Stelle: "Ein Millionenheer an Entwurzelten versuchte 
verzweifelt, wieder Grund unter die Füße zu kriegen, Organisationsstrukturen 
dafür gab es nicht. So ist es erklärlich, dass es Männer mit zuvor gesammelter 
organisatorischer Erfahrung waren, die das Heft in die Hand nahmen", Zitat Ende. 
Ist das eine ausreichende Reaktion auf diese Studie? 
 
Wolffsohn: Das ist zumindest eine 
realistische Beschreibung, die nicht nur den Bund der Vertriebenen betrifft. Die 
betrifft auch viele Organisationen und Institutionen nach 1945/49, also der 
Gründung der Bundesrepublik überhaupt. Und dieses Problem kennen wir auch aus 
der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. Und wenn wir noch weiter in die 
Geschichte zurückgehen, aus dieser Zeit stammt das Wort Amnestie etwa, nämlich 
Vergessen, nämlich das alte Athen um das Jahr 400 vor Christus. Schon da stellte 
sich die Frage, wie gehen wir, die Unbelasteten, mit den zuvor Belasteten um? 
Umbringen können, wollen, werden wir sie nicht, auf der anderen Seite sind es 
funktionale Spezialisten, um nicht zu sagen Eliten, die wir brauchen. Das ist 
eine tragische Situation ...  
 
Kassel: Aber gibt es nicht einen 
Unterschied: Es gibt ja doch ein weites Feld zwischen Umbringen und 
Zu-Funktionären-Machen. Die Vertriebenenverbände, auch der BdV, haben sich immer 
als Verbände von Opfern generiert, von Opfern der Vertreibung und damit aber 
indirekt oder gar nicht so indirekt auch von Opfern der Folgen des Zweiten 
Weltkriegs. Und wenn aber in diesen Verbänden Leute entscheidend waren, die zu 
den Leuten zählten, die den Zweiten Weltkrieg verursacht haben ... ? 
 
Wolffsohn: Da haben Sie völlig recht, aber 
die haben ihn ja nun nicht verursacht, sondern an der Spitze waren nicht diese 
Funktionäre, die dann im Bund der Vertriebenen waren, sondern da gab es den 
engeren Kreis um Adolf Hitler. Also, es waren Mitläufer und Mittäter, auch da 
muss man unterscheiden. Nächste Unterscheidung, man muss differenzieren zwischen 
der Führungsebene jedes Verbandes und den Verbandsmitgliedern. Und da gab es 
natürlich unter den deutschen Vertriebenen Opfer. Es wäre ja töricht - und ich 
sage das ganz bewusst als jüdischer Deutscher -, es gab sehr viele unschuldige 
deutsche Opfer unter den deutschen Vertriebenen.  
 
Und wenn ich als Jude Empathie, das heißt Einfühlungsvermögen, Einfühlungswillen 
erwarte von wem auch immer, dann muss ich das auch den Opfern gegenüber 
aufbringen, und unterscheide da zwischen alten Nazis und unschuldigen Opfern, 
selbstverständlich. Aber Verallgemeinerungen helfen uns da nicht weiter. Und ich 
kann nur noch einmal sagen, Hut ab erstens, dass diese Studie von diesem Verband 
in Auftrag gegeben wurde, und zweitens - ich bin Historiker auch des Nahen 
Ostens -, das, was die deutschen Vertriebenen mit dem Gewaltverzicht bereits 
1950 geleistet haben, ist welthistorisch betrachtet für Vertriebene geradezu 
einmalig! 
 
Kassel: Aber gehört dieser Teil der 
Geschichte, der nun durch diese Studie dokumentiert ist, nicht auch in die 
Arbeit der Zukunft? Sprich, zum Beispiel in die Arbeit der Stiftung Flucht, 
Vertreibung, Versöhnung und einer möglichen Ausstellung? 
 
Wolffsohn: Aber natürlich! Das, was war, 
muss benannt werden. Und das kann nicht beschönigt werden. Und gerade in dieser 
Gebrochenheit muss man sich mit der Geschichte auseinandersetzen, zeigen: Seht 
her, heute ist der Bund der Vertrieben bereit anzuerkennen, dass in dem eigenen 
Verband schlimme Fehler, auch schlimme Leute dabei waren, wir gehen einen 
anderen Weg! Das ist sozusagen immer der Maßstab im wörtlichen Sinne: Man misst 
sich an dem, was war, sind wir besser oder sind wir schlechter? Und 
erfreulicherweise kann man sagen, dass die Entwicklung, das Voranschreiten der 
Zeit eine Besserung gebracht hat. 
 
Kassel: Sagt der Historiker Michael 
Wolffsohn über die Vergangenheit des Bundes der Vertriebenen und über die 
Belastung des ersten Präsidiums 1958. Das war der Kerngegenstand einer 
historischen Untersuchung, die unter dem Titel "Funktionäre mit Vergangenheit" 
kürzlich veröffentlicht wurde. Professor Wolffsohn, ich danke Ihnen für das 
Gespräch! 
 
Wolffsohn: Gerne! 
 
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren 
eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner 
Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. 
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