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  Man wollte die Deutschen "neu erziehen"

Die Sicht eines US-Historikers auf die deutsche Nachkriegsgeschichte
R. M. Douglas im Gespräch mit Klaus Pokatzky

In seinem Buch "Ordnungsgemäße Überführung" diskutiert R. M. Douglas Umsiedlungen unter politischen und völkerrechtlichen Gesichtspunkten. Die Idee der Vertreibung war eine schlechte Idee, "das sollte sich nicht wiederholen", so der Professor der New Yorker Colgate University.

Klaus Pokatzky: Zwölf bis vierzehn Millionen Deutsche waren es, die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden. Vor allem aus dem Sudetenland in der Tschechoslowakei, aus Schlesien, das nun polnisch besetzt war, und aus Ostpreußen.

R. M. Douglas, Geschichtsprofessor an der Colgate University im US-Bundesstaat New York hat darüber das Buch verfasst: "Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg".

Welcome, Mr. Douglas!

R. M. Douglas: Thank you, it's very good to be here!

Pokatzky: Ordnungsgemäße Überführung, Vertreibung - es gibt noch andere Begriffe für das, was damals geschah. Wilde Vertreibungen, organisierte Vertreibungen, geordneter Transfer, die größte Zwangsumsiedelung in der Menschheitsgeschichte.

Welches wäre der Ausdruck, der für Sie am präzisesten zusammenfasst, was damals passiert ist?

Douglas: Ehrlich gesagt halte ich es für unwichtig, dieses Phänomen mit Wörtern ganz präzise zu beschreiben. Viel wichtiger ist das Ereignis, ist das Phänomen als solches. Und ob wir das nun eine Massendeportation, ob wir das Zwangsumsiedelung nennen - natürlich haben all diese Begriffe auch eine gewisse Bedeutung, aber es ist einfach, wie Sie auch richtig erwähnt haben, die größte Umsiedelung, die in der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat auf diese Art und Weise.

Und ein ordnungsgemäßer Transfer ist schon in sich ein Widerspruch, weil eine Zwangsumsiedelung immer auch unmenschlich sein muss. Also reden wir jetzt nicht von den Begriffen, lassen Sie uns lieber von dem Phänomen, von dem Ereignis sprechen.

Pokatzky: "Orderly and humane", also geordnet und human sollte das ja alles nach dem Willen der Alliierten ablaufen. Wie ist es denn nun tatsächlich abgelaufen?

Douglas: Nun, es ist nicht ganz korrekt zu sagen, dass die Alliierten eine ordnungsgemäße Vertreibung geplant haben. Sie haben es mit Sicherheit versprochen beim Potsdamer Abkommen, aber sie haben dann Expertenstudien beauftragt, und diese Experten haben ganz klar gesagt, dass es unmöglich ist, diese Form von Umsiedelung auf eine ordnungsgemäße Art und Weise durchzuführen.

Sie haben auf das große Leiden der Zivilbevölkerung hingewiesen, aber auch darauf, dass es große wirtschaftliche Folgen haben würde nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Mitteleuropa, und die Alliierten haben daraufhin diesen Experten einfach nicht mehr zugehört. Die Experten hatten nicht das gesagt, was sie sich erhofft hatten, also wurde das einfach durchgezogen, ohne auf die Experten zu hören.

Pokatzky: Warum haben die Alliierten sich denn darauf eingelassen, dass dann vor allem die Tschechoslowakei und Polen Millionen von Menschen vertreiben konnten in die besetzten Gebiete, vor allem die sowjetisch besetzte Zone, und die britisch, aber auch die amerikanisch besetzte Zone?

Douglas: Die Alliierten lösten gleich mehrere Probleme, indem sie das akzeptiert haben. Da war einmal der Wunsch, ein für alle Mal mit dem deutschen Problem aufzuräumen. Und vor allen Dingen sollte auch der ganz normale Deutsche begreifen, dass er den Krieg verloren hatte.

Gerade die Briten waren der Meinung, dass das nach 1918 nicht wirklich geschehen war. Und nun sollte es wirklich jeder Deutsche verstehen, was für Konsequenzen es hat, wenn man einen Krieg verliert, und dass diese Konsequenzen nicht eben immer angenehm sind. Insofern nahm man das Leiden der Zivilbevölkerung durchaus in Kauf.

Und man wollte die Deutschen sozusagen ja auch wieder neu erziehen, das war Teil dieses neuen Erziehungsprogramms für die deutsche Zivilbevölkerung. Und das andere war natürlich, dass die ethnischen Deutschen aus diesen Grenzgebieten, vor allen Dingen von Polen und der Tschechoslowakei sollten wirklich sozusagen ins deutsche Kernland zurückgebracht werden, um sämtliche Hitlers auszuschließen, die da eventuell noch einmal kommen könnten, um auch diese Konflikte mit auszuschließen.

Und es kam noch etwas hinzu: dass die Alliierten vor allen Dingen bei den Regierungen Polens und der Tschechoslowakei Einfluss gesucht haben. Also nicht nur die Sowjetunion, sondern auch die westlichen Alliierten haben sich versucht, mit dieser Nachkriegsregierung in beiden Ländern gut zu stellen und hatten deswegen auch ein großen Verständnis dafür, dass die versucht haben, eben ihre deutschen Minderheiten umzusiedeln.

Pokatzky: Das Leiden der Zivilbevölkerung, wie weit durfte das gehen? Sie schildern in dem Buch ja Gräuel, die auch gerade an Frauen und Kindern verübt wurden, Hunderttausende sind bei den Vertreibungen ums Leben gekommen. Das alles ist immer wieder auf eine Stufe gestellt worden mit dem, was die Nazis vorher ihren Nachbarvölkern und vor allem den Juden angetan hatten. Ist das gerechtfertigt?

Douglas: Also, nun muss man sehr vorsichtig sein, wenn man solche Vergleiche anstrengt und die Verbrechen in der Nazi-Ära mit denen versucht zu vergleichen, die danach stattgefunden haben. Man muss erst einmal festhalten, dass doch ein Großteil dieser Zwangsumgesiedelten es überlebt haben. Davon kann ja nicht die Rede sein, vor allen Dingen bei den jüdischen Opfern der Nazi-Gräueltaten. Das muss mal erwähnt werden.

Was jetzt das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung nach dem Krieg angeht, haben die Alliierten das Ausmaß so wohl nicht erkannt. Sehr wohl haben sie natürlich mitbekommen, wenn es Zugladungen gab mit gebrechlichen, auch sterbenden, auch kranken Deutschen, die dann in Deutschland selber ankamen. Da hat sich schon Protest geregt. Auch wenn dieser Protest gar nicht so ein humanitärer Protest in erster Linie war, sondern eher ein organisatorischer.

Wenn aber das Sterben und die Gräueltaten noch in den Ländern geschahen, aus denen die Deutschen vertrieben wurden, also in den Ursprungsländern, dann haben die Alliierten dieses Leiden nicht wirklich zur Kenntnis genommen.

Wir müssen uns noch einmal vergewissern, dass die Nazis eine mörderische Politik betrieben haben. Sie wollten die demokratische Karte Europas durch eine Ausrottungspolitik verändern, das war ihr erklärtes Ziel. Das war nun überhaupt nicht das Ziel dieser Umsiedelungen.

Bei diesen Umsiedelungen gab es Tote. Man hat diese Toten auch in Kauf genommen, aber es war nicht der Sinn der Umsiedelungen, Deutsche bewusst zu töten.

Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur der amerikanische Historiker R.M. Douglas zur Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, die er in seinem Buch "Ordnungsgemäße Überführung" beschrieben hat.

Herr Douglas, wer hat denn am meisten nun profitiert von diesen Vertreibungen. Und was haben die Länder, die die Deutschen vertrieben haben, also die Tschechoslowakei und Polen voran, davon gehabt? Was hat ihnen diese Massenenteignung von Millionen wirtschaftlich gebracht?

Douglas: Also ich muss sagen, traurigerweise hat eigentlich niemand davon wirklich profitiert auf Dauer, weil wirtschaftlich gab es erst einmal einen ganz großen Kahlschlag, weil die Leute, die da vorher die Wirtschaft angekurbelt hatten, sind ja plötzlich alle herausgeworfen worden.

Das betraf ja nicht nur den unproduktiven Teil der Bevölkerung, sondern auch Lehrer, Doktoren, Leute, die einfach wissen, wie die Wirtschaft funktionierte. Und dieses Grenzgebiet der Tschechoslowakei oder des heutigen Tschechiens und Polens ist eigentlich bis heute noch ein Gebiet, was wirtschaftlich unterentwickelt ist.

Und dazu muss man einfach sagen, dass diejenigen, die in dieses Land dann hereingelassen worden sind, denen hat man viele Versprechungen gemacht. Man hat ihnen gesagt, ihr bekommt die Häuser der Deutschen, ihr bekommt ihre Wirtschaftsmacht. Aber das hat so nicht funktioniert, weil auch streckenweise dann die kommunistischen Regimes, die sich dann später etabliert haben, das auch wieder zurückgenommen haben.

Und es ist wirklich so, dass bis heute diese Gebiete, wo früher die Deutschen gelebt haben und die man ausgewiesen hat, nach wie vor unterentwickelt sind, wirtschaftlich. Das hat mehrere Gründe. Das liegt auch daran, beispielsweise, dass es Bonuszahlungen gab an Einheimische, diese Gebiete zu besiedeln, aber diese Bonuszahlungen hat man streckenweise umsonst ausgegeben, weil die Leute da nicht geblieben sind. Weil sich da nichts entwickelt hat, sind die dann auch wieder weggezogen.

Pokatzky: Als Sie sich jahrelang mit diesem Thema beschäftigt haben und in den Archiven ja gelesen und gewühlt haben, gab es da einmal eine Situation, wo Sie irgendetwas erfahren haben, dass Sie fassungslos gemacht hat?

Douglas: Nun, das geschah sehr häufig. Es gibt sehr, sehr viele tragische Dinge, die ich erfahren habe, die ich auch nicht mit ins Buch aufgenommen habe, obwohl sie wirklich herzzerreißend waren. Aber noch einmal: Es ging mir nicht darum, den Fokus in diesem Buch auf die Gräuel zu legen.

Ich finde, es gibt einfach auch eine Lektion, die gelernt werden muss aus diesem Jahrhundert, das einfach sehr viele schlecht politische Ideen hatte. Und auch diese Idee der Vertreibung war eine schlecht Idee, und das sollte sich nicht wiederholen.

Pokatzky: Nach dem Ende des Ostblocks - sprechen wir nach Ihrer Einschätzung wirklich offen und ehrlich darüber?

Douglas: Also bei meinen Recherchen, vor allen Dingen in Polen und in Tschechien ist mir aufgefallen, dass bei jungen Menschen eine ganz große Neugierde besteht. Sie möchten mehr darüber wissen, und sie haben mich immer wieder gefragt, gerade wie ich in Warschau und in Prag war, warum haben wir darüber nichts in der Schule gelernt? Warum hat das in unserem Studium keine Rolle gespielt? Warum wissen wir nichts darüber?

Bei einer älteren Generation, die noch leidvoll erfahren hat, was es bedeutet hat, unter der deutschen Besatzung zu leben, da liegt das natürlich anders. Die möchten nicht wieder daran erinnert werden, die möchten auch nicht, dass sich da Betrachtungsweisen ändern. Aber das wissen gerade die deutschen Zuhörer: Man kann vor der Geschichte nicht weglaufen. Man muss sich mit der Geschichte auseinandersetzen.

Pokatzky: Danke, R.M. Douglas.

Ihr Buch "Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg" ist bei C. H. Beck erschienen, hat 556 Seiten und kostet 29,95 Euro. Thank you very much!

Douglas: Thank you!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Quelle:
Deutschlandradio Kultur, 04.09.2012,
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1857735/

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