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Vor zehn Jahren überwies Berlin die angeblich letzte Reparationsrate. Bis 2021 können aber noch weitere Forderungen geltend gemacht werden von Wolfgang Kaufmann
Im Rahmen seiner Proteste gegen die Reparationsverpflichtungen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten auferlegt worden waren, versuchte der Reichsausschuss für das Deutsche Volksbegehren die Bevölkerung der Weimarer Republik im Herbst 1929 mit einem Plakat aufzurütteln, auf dem unter anderem stand: „Bis in die dritte Generation müsst ihr fronen!“ Das erschien den Menschen damals ungeheuerlich genug – am Ende zahlten dann aber sogar noch die Urenkel der Kriegsgeneration. Die angeblich letzte Reparationsrate in Höhe von 75 Millionen Euro überwies das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen erst am 3. Oktober 2010. Das Geld ging dabei an institutionelle oder private Inhaber von 1990 ausgegebenen Fundierungsschuldverschreibungen der Bundeswertpapierverwaltung über die Zinsrückstände aus drei Auslandsanleihen der Jahre 1924 und 1930 zwecks Finanzierung der von den Siegermächten diktierten Reparationen. Die Außenstände waren in der Zeit zwischen 1945 und 1952 aufgelaufen und bezifferten sich auf insgesamt 239,4 Millionen D-Mark. Die bis 2010 bestehende Zahlungsverpflichtung resultierte unmittelbar aus der deutschen Vereinigung, denn laut dem Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 sollte Deutschland die noch offenen Zinsforderungen erst dann begleichen, wenn es seine Teilung überwunden hatte. Dabei handelte es sich indes um eine vergleichsweise geringe Restsumme. Immerhin verlangten die Siegermächte während der Pariser Konferenz Ende Januar 1921 Reparationen in Höhe von horrenden 269 Milliarden Goldmark, von denen Frankreich 52 Prozent und Großbritannien 22 Prozent erhalten sollten. Das Geld sollte in 42 ansteigenden Jahresraten bezahlt werden. Im Londoner Zahlungsplan vom 30. April 1921 wurde der Betrag auf 132 Milliarden Goldmark reduziert, aber auch das war angesichts der damaligen wirtschaftlichen Situation eine unmöglich von Deutschland zu schulternde Belastung. Eine Goldmark entsprach 0,358423 Gramm Feingold. Beim aktuellen Goldpreis sind das über zweieinhalb Billionen Euro. Rekord-Reparationen Selbst für die teilweise Erfüllung der exorbitanten Reparations-Auflagen musste sich die Weimarer Republik im Ausland verschulden und 1924 die Dawes-Anleihe sowie 1930 die Young- und Kreuger-Anleihe aufnehmen. Die Kreditsummen betrugen hier 800 Millionen Goldmark beziehungsweise 300 und 125 Millionen US-Dollar – bei Laufzeiten bis 1949, 1965 und 1983. Diese Anleihen wurden sogar noch nach dem faktischen Stopp der Reparationszahlungen infolge des Abkommens von Lausanne vom 9. Juli 1932 bedient, weil es sich um finanzielle Verpflichtungen gegenüber nichtstaatlichen Gläubigern handelte. Erst das Dritte Reich stellte den Geldtransfer 1934 ein.Nach 1949 tilgte die Bundesrepublik bis 1983 alle noch offenen Schulden aus den drei Anleihen – mit Ausnahme der oben erwähnten Zinsrückstände, deren Ausgleich bis 2010 erfolgte. Dafür wendete Bonn insgesamt 1,53 Milliarden D-Mark auf, wie der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in seiner Ausarbeitung „Finanzielle Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag“ vom Juni 2008 errechnete.Wie viele Geld zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und 1934 geflossen ist, ist dahingegen bis heute unklar: Die Schätzspanne bezüglich der tatsächlich getätigten Reparationszahlungen reicht von 21,8 bis 67,7 Milliarden Goldmark. Das sind umgerechnet zwischen 400 Milliarden und 1,3 Billionen Euro. Die niedrigsten Schätzungen stammen meist von Historikern aus den ehemaligen Entente-Staaten. Auf jeden Fall hat kein anderes Land der Welt jemals in der Geschichte mehr und länger Reparationen in Form von Geld geleistet als Deutschland im Nachgang zum Ersten Weltkrieg. So beliefen sich die 1815 aufgestellten Forderungen gegenüber Frankreich im Anschluss an die 23 Jahre währenden revolutionären sowie napoleonischen Aggressionskriege auf ganze 700 Millionen Francs, umgerechnet rund elf Milliarden Euro . Nach der Vereinigung ging es weiter Und nach der französischen Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg musste Paris gemäß dem Frieden von Frankfurt lediglich fünf Milliarden Goldfrancs aufbringen, umgerechnet etwa 80 Milliarden Euro. Deswegen konnte es diese Verpflichtung auch schon bis 1873 erfüllen. Auch kamen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Österreich, Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich beziehungsweise die Türkei in finanzieller Hinsicht im Vergleich mit Deutschland eher glimpflich davon. Zwar sahen die entsprechenden Pariser Vorortverträge beziehungsweise -diktate vor, dass diese Verbündeten Deutschlands im Ersten Weltkrieg gleichermaßen Reparationen zu leisten hätten, allerdings wurde deren Höhe entweder niemals konkret festgelegt oder belief sich auf maximal 2,25 Milliarden Goldfrancs, umgerechnet ungefähr 36 Milliarden Euro wie im Falle Bulgariens. Der Balkanstaat zahlte wie Ungarn am Ende nur einen Bruchteil des Geforderten und Österreich zahlte wie die Türkei überhaupt nichts. Ungeachtet der auch im internationalen Vergleich immensen erbrachten Leistungen ist das Kapitel Reparationen infolge der Niederlage von 1918 keineswegs so definitiv abgeschlossen, wie viele Medien im Oktober 2010 suggeriert haben. Denn bis dahin wurden lediglich neun Zehntel der 1990 ausgegebenen Fundierungsschuldverschreibungen vorgelegt. Die Inhaber der restlichen Wertpapiere haben noch bis zum 31. August 2021 Zeit, ihre offenen Forderungen geltend zu machen. Das vermeldet jedenfalls die offizielle Internetseite des Bundesamtes für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen. Sollten also demnächst weitere Anspruchsberechtigte auftauchen, wäre dann inzwischen sogar schon die fünfte Generation deutscher Steuerzahler gezwungen, sich an den Reparationen für einen vor über 100 Jahren zu Ende gegangenen Krieg zu beteiligen.
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