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Tag der Heimat 2006
Es gilt das gesprochene Wort! Anrede und Begrüßung Im vorigen Jahr gedachten Deutschland und die Welt über viele Monate hinweg des 60. Jahrestages des Kriegsendes in Europa. Die große Erleichterung über dieses Ende eines schrecklichen Krieges mit Millionen von Toten vieler Völker war bestimmender Kern der Erinnerung. Aber mit dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft über Europa und der militärischen Kämpfe 1945 kehrten in Mittel- und Osteuropa über viele weitere Jahre hin beileibe keine Menschenrechte ein. Und so blicken wir auch in diesem Jahr 2006 wiederum 60 Jahre zurück auf die Zeit der sogenannten „geordneten“ Zwangsausweisungen, die in ihrer Unmenschlichkeit nicht hinter den Greueln der „wilden“ Vertreibungen im Frühjahr und Sommer 1945 zurückblieben. Auch 1946 starben Hunderttausende während der Transporte und Deportationen. Und sie starben in unzähligen Lagern an Hunger, Erschöpfung, Seuchen und durch vielfachen Mord und Totschlag. Die Vertriebenen, die West- und Mitteldeutschland erreichten, waren von Verzweiflung und Traumata geprägt. Nie gab es so viele Selbstmorde in Deutschland wie in den Jahren von 1945 bis 1948. Die Sonderkorrespondentin der New York Times, Anne O´Hare McCormick, berichtete im Oktober 1946: „Der Umfang dieser Umschichtung und die Verhältnisse, unter denen sie vor sich geht, haben in der Geschichte nichts Vergleichbares. Niemand, der diese Greuel unmittelbar erlebt, kann daran zweifeln, dass es sich um ein Verbrechen gegen die Menschheit handelt...“ Zuvor schon vor genau 65 Jahren, im August 1941, hatte der Leidensweg der Russlanddeutschen durch die Deportationen in den Osten der Sowjetunion dramatische Ausmaße angenommen. Es ist und bleibt unsere Aufgabe und es ist die Aufgabe Deutschlands, auch an diese Millionen Opfer zu erinnern. Alle Bundeskanzler unseres Landes haben deutlich gemacht, dass die Vertreibungen rechtswidrig gewesen sind. Willy Brandt, der Mann, der die Türen in Richtung Polen aufgestoßen hat, machte zuvor als Außenminister 1966 deutlich:
Bundeskanzler Gerhard Schröder war am 3. September 2000 bei uns genauso eindeutig:
Und Angela Merkel, die heutige Bundeskanzlerin, sagte im vorigen Jahr an diesem Ort:
Ich danke Ihnen Herr Bundespräsident, dass Sie heute die Festrede halten und sich damit in Solidarität zu diesem dramatischen Teil deutscher Geschichte bekennen, und ich danke auch für vertrauensvolle Gespräche. Ich danke der Bundesregierung, dass sie wie all die Jahre zuvor für diesen Tag die Beflaggung der Bundesgebäude angeordnet hat. Es braucht damit nur noch einen kleinen Schritt zu einem nationalen Gedenktag für die Vertriebenen. In Italien gibt es einen solchen seit zwei Jahren für die vertriebenen Italiener. Auch Armenien erinnert selbstverständlich an das Drama im Osmanischen Reich. Die deutschen Heimatvertriebenen bitten Sie, Herr Bundespräsident, sich für einen nationalen Gedenktag einzusetzen. Der Bundesrat hatte sich bereits vor zwei Jahren dafür ausgesprochen. Zur Totenehrung bitte ich Sie, sich zu erheben.
Wunderbar tröstend hat uns vor drei Jahren der polnische Papst Johannes Paul II. in seiner Grußbotschaft zum Tag der Heimat mit seinen Worten umfangen:
Daran möchte ich alle unsere Nachbarn, mit denen wir versöhnt und in Frieden leben wollen, erinnern. Dramatischer als andere Deutsche hatten die Vertriebenen an den Folgen des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu tragen. Dieses Sonderopfer ist Teil gesamtdeutscher Geschichte. Deshalb ist und bleibt es Aufgabe dieses Staates und des ganzen deutschen Volkes, das leidvolle Erbe der Vertriebenen als gemeinsame Aufgabe im kollektiven Gedächtnis Deutschlands zu verankern. Wir haben als Bund der Vertriebenen durch die Gründung unserer Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN einen nachdrücklichen Anstoß dazu gegeben. Ohne unsere Stiftung gäbe es keine Selbstverpflichtung der jetzigen Bundesregierung, hier in Berlin ein sichtbares Zeichen zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung zu setzen. Ohne unsere Stiftung wären unsere europäischen Nachbarn nicht so hellhörig geworden und teilweise bereit, in einem europäischen Netzwerk am Thema Aufarbeitung der Vertreibung mitzuwirken. Ohne unsere Stiftung gäbe es auch nicht die Ausstellung zu „Flucht, Vertreibung, Integration“ des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die heutige Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat in ihrer Festrede zum Tag der Heimat vor einem Jahr mit Recht gesagt:
Ich weiß, meine lieben Freunde, dass die Bundeskanzlerin zu dieser Aussage steht. Etwas anderes hat die Gründung unserer Stiftung aber auch noch deutlich gemacht. Wir stehen aus vollem Herzen zur versöhnenden Charta der deutschen Heimatvertriebenen, denn vier gleichrangige Schwerpunkte hat der BdV dieser Stiftung zur Aufgabe gemacht und knüpft damit an die Charta an: Zum einen soll in einem Gesamtüberblick in Berlin das Schicksal der vielen Millionen deutschen Deportations- und Vertreibungsopfer erfahrbar gemacht werden. Dazu gehören neben dem Leidensweg insbesondere auch die Siedlungsgeschichte und das kulturelle Erbe als Teil des gesamtdeutschen Kulturgutes und einer gesamtdeutschen Identität. Zum anderen sollen die Veränderungen und die Schwierigkeiten Deutschlands durch die Integration von Millionen entwurzelter Landsleute ausgeleuchtet werden. Diese beiden Aufgabenstellungen gehören in den Bereich des Selbstverständlichen eines Volkes. Die Selbstvergewisserung der eigenen Herkunft, die Kenntnis der schwierigen und traumatischen Lebensläufe der Betroffenen und ihre Selbstüberwindung, ausgerichtet auf ein versöhntes Europa, helfen bei der Bewältigung der Zukunft. Was allen Völkern dieser Erde zugebilligt wird, nämlich das Recht, über erfahrenes Leid sprechen zu dürfen, Opfer zu betrauern, muss auch für Deutschland gelten, zumal Trauerbewältigung die Grundlage für ein positives dialogfähiges Nachvorneblicken ist. Beide Stiftungsaufträge sind aber nicht Kern unserer Ausstellung „Erzwungene Wege“, sondern bleiben einer dauerhaften Dokumentationsstätte in Berlin vorbehalten. Die beiden weiteren Stiftungsaufgaben sind seitens eines Opferverbandes nicht selbstverständlich, denn sie betreffen primär nicht das eigene Schicksal, sondern sie werden getragen von der Solidarität und Empathie mit anderen Opfern. Dazu gehört der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis. Mit ihm werden alle zwei Jahre Personen ausgezeichnet, die sich insbesondere gegen die Verletzung von Menschenrechten durch Völkermord, Vertreibung und die bewusste Zerstörung nationaler, ethnischer oder religiöser Gruppen gewandt haben. Ich freue mich, dass unser Preisträger des vorigen Jahres den weiten Weg aus Banja Luka auf sich genommen hat und heute anwesend ist. Herzlich willkommen Bischof Dr. Franjo Komarica. Die jetzt hier in Berlin laufende Ausstellung „Erzwungene Wege“ unserer Stiftung widmet sich der schwergewichtigen vierten Aufgabe, den Blick auf die vielfältigen Vertreibungen in Europa und seinen Grenzgebieten im 20. Jahrhundert zu öffnen. Sie ist keine Ausstellung, die Totalitarismus, Nationalsozialismus und Kommunismus zum Kernthema hat, da Vertreibungen nicht nur in solchen Systemen oder als Folge solcher Systeme erfolgten, sondern durchaus auch in vermeintlich zivilisierten Herrschaftsformen oder gar durch den Völkerbund. Der jeweilige Kontext ist wesentlich. Viele der Geschehnisse sind in Vergessenheit geraten. Wir wollen mit unserer Stiftung, beginnend mit dieser Ausstellung, die Vertreibungsopfer der Vergessenheit entreißen. Wir wollen ihnen Fürsprecher sein. Alle Opfer von Genozid und Vertreibung brauchen einen Platz im historischen Gedächtnis Europas. Von Anbeginn gehörte der europäische Blick zu den Anliegen unserer Stiftung. Das hat dazu beigetragen, dass zahlreiche renommierte Persönlichkeiten unsere Arbeit unterstützen, wie Rüdiger Safranski, Imre Kertész, Joachim Gauck, György Konrád, Helga Hirsch, Christian Thielemann, Peter Scholl-Latour usw. Insgesamt ist diese Ausstellung singulär. Nichts Vergleichbares hat es bislang gegeben. Weder in Deutschland noch irgendwo anders in Europa. Nichts wird dadurch relativiert. Bundeskanzler Helmut Kohl hat in einer Bundestagsdebatte 1995 klargestellt:
In der Koalitionsvereinbarung der jetzigen Bundesregierung ist festgeschrieben, dass zur Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung „im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen gesetzt“ werden soll. Damit ist eine tragfähige Grundlage für eine Erinnerungs- und Dokumentationsstätte gelegt. Ich begrüße, dass sich der Staat dieser Aufgabe annehmen will. Ich erwarte und ich gehe davon aus, dass die Umsetzung selbstverständlich unter intensiver Beteiligung der Vertriebenen und der Stiftung erfolgt, so wie es auch bei anderen Opfergruppen geschieht. Der frühere Bundesinnenminister - Sie lieber Otto Schily - hat immer wieder betont, dass die Umsetzung nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg, sondern nur mit diesen gemeinsam erfolgen kann. Anders als im Kulturbereich der vorangegangenen Bundesregierung war die Zusammenarbeit mit dem seinerzeitigen Bundesinnenminister von Anbeginn bis heute wohltuend fruchtbar und konstruktiv. Dafür, lieber Herr Schily, danke ich Ihnen sehr. Die neue Bundesregierung hat für den Kulturbereich insgesamt positive Zeichen gesetzt. Staatsminister Bernd Neumann hat dem Bundesvorstand des BdV gegenüber deutlich gemacht, dass die landsmannschaftliche Arbeit nicht wie in der Vergangenheit ausgegrenzt wird. Das ist klug, denn insbesondere die grenzüberschreitende Kulturarbeit unserer Mitgliedsverbände trägt zum europäischen Miteinander mehr bei als viele politische Erklärungen aus den Hauptstädten. Wenn wir den Erfolg unserer eigenen Verbandsarbeit bewerten, so können wir konstatieren, dass es dem BdV in den letzten Jahren gelungen ist, eine lebhafte öffentliche Debatte zu entfachen und das öffentliche Bewusstsein wachzurütteln. Niemals in den zwei Jahrzehnten zuvor hat es eine so intensive Diskussion über unsere Vertreibung gegeben wie seit dem Herbst 2000. Das ist höchst erfreulich. Viele Vorurteile haben sich inzwischen selbst entlarvt und zahlreiche Nichtvertriebene haben sich an unsere Seite gestellt. Einiges an Vorurteilen aber geistert immer wieder durch die Medien. Und dem will ich, dem müssen wir ein Ende bereiten. Es sind dies tatsächliche oder behauptete NS-Belastungen von früheren Funktionsträgern des BdV. Um spekulativer Berichterstattung mit Halbwahrheiten und Mutmaßungen ein für alle Mal den Boden zu entziehen, werde ich wissenschaftliche Studien veranlassen bzw. unterstützen. Als BdV-Präsidentin habe ich ein elementares Interesse daran, dass alle Facetten der Geschichte unseres Verbandes offengelegt werden. Die deutschen Heimatvertriebenen haben sehr früh die Vokabel „Revanche“ aus ihrem Handeln verbannt. Unsere Charta von 1950 hat die Weichen zu einem versöhnten Europa gestellt. Und wir Vertriebenen haben unsere Selbstverpflichtung „durch harte, unermüdliche Arbeit“ teilzunehmen „am Wiederaufbau Deutschlands und Europas“ mit Leben erfüllt und umgesetzt. Wir glauben nicht nur an ein versöhntes Europa, in dem die Völker ohne Furcht und ohne Zwang leben können, sondern wir tragen und zwar tagtäglich dazu bei. Vieltausendfache Kontakte in die alte Heimat haben Freundschaften wachsen lassen, haben Partnerschaften begründet und haben zu tieferem Verständnis füreinander beigetragen. Seitens vieler europäischer Regierungen gibt es Gesten des Mitgefühls, der Anteilnahme und der Erkenntnis. Ich danke ausdrücklich dem ungarischen Parlament für die bekundete Absicht, demnächst einen Gedenktag für die aus Ungarn vertriebenen Deutschen abzuhalten. Und es ist gut, dass jetzt genau dort, wo diese Vertreibungen in Ungarn begannen, in Budaörs (Wudersch) dem Schicksal der Deutschen unter finanzieller Beteiligung des ungarischen Staates eine Erinnerungsstätte errichtet wurde. Die mitfühlenden Worte der ungarischen Parlamentspräsidentin, wonach die Vertreibungsdekrete „Dokumente der Schande“ seien, lindern den Schmerz und die Trauer der Betroffenen mehr als Geld und Gut. Viele Signale des Verständnisses und der Empathie sind in unseren Nachbarländern zu finden. Selbst in dem Land, aus dessen Hauptstadt verletzende Töne kommen, selbst dort gibt es inzwischen Hunderte von kleinen Erinnerungsstätten in vielen Gemeinden. Daran messen wir das Miteinander unserer Völker. Wir lassen uns durch noch so drastische Formulierungen und noch so schrille Töne, die Ausdruck verhärteter Herzen sind, nicht provozieren und wir lassen uns nicht von unserem Weg der Versöhnung abbringen. Ich frage mich allerdings schon, was aus der wunderbaren Botschaft der polnischen Bischöfe aus dem Jahre 1965 mit dem wegweisenden Satz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ heute in der polnischen politischen Führung noch übrig geblieben ist. Heimat, der Tag der Heimat, ist für uns nicht Abschottung und geistige Enge, sondern Offenheit und der Blick über die Grenzen, Bewahrung der eigenen Kultur und Begegnung mit den Kulturen unserer Nachbarn. Heimat ist für uns verbunden mit dem Willen und dem Wunsch auf gute Nachbarschaft. Ich baue auf die junge Generation unserer europäischern Nachbarn, die genau wie wir und wie unsere Jugend offene und freundschaftliche Kontakte zu ihren europäischen Nachbarn sucht, dabei aber auch die Wahrheit sucht. Ein Europa, in dem die Menschen in Frieden und Verständnis miteinander leben können, wächst durch Offenheit und Wahrheit zusammen. Wir reichen allen unseren Nachbarn freundschaftlich die Hände und laden ein zum Dialog.
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