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Versöhnung mit sich selbst Mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen hat der Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, den 5. August als möglichen nationalen Gedenktag für die Opfer der Vertreibung zu prüfen. Es ist der Jahrestag der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950. In der Debatte traten scharfe Gegensätze zwischen Regierung und Opposition zutage. Sprecher von Union und FDP hoben hervor, dass die Vertriebenen mit ihrer Charta den Teufelskreis von Rache und Vergeltung durchbrochen hätten, indem sie schon fünf Jahre nach dem Krieg die Hand zur Versöhnung reichten. Stephan Mayer (CSU) nannte die Charta einen „Akt der Selbstüberwindung“ und sprach von einem „herausragenden historischen Dokument“. Patrick Kurth (FDP) sagte: „Die Charta war und ist wegweisend.“ Ähnlich äußerten sich noch weitere Politiker der Koalition. Im Antrag wird unter anderem dazu aufgefordert, die „Stigmatisierung der Opfer von Flucht und Vertreibung zu beenden“. Die Antragsteller wollen neben Versöhnung mit den östlichen Nachbarn nun auch die „Versöhnung der Deutschen mit sich selbst“ voranbringen. Der SPD-Abgeordnete Wolfgang Thierse hielt dagegen, die deutschen Opfer der Vertreibung hätten nach den NS-Verbrechen sowieso kein „Recht auf Rache“ gehabt. Darauf zu verzichten sei seiner Meinung nach daher eine Anmaßung. Wie ein „legitimes Recht auf Rache“ begründet wäre, ließ Thierse offen. Grünen-Politiker Volker Beck zeigte sich generell bereit, über einen Gedenktag zu reden, nicht aber über den 5. August, den Tag der Charta. Offenkundig ging es Grünen, SPD und Linkspartei vor allem darum, die Vertreter der Vertriebenen auszugrenzen. So schossen sich die Redner der Opposition sowohl auf die Unterzeichner der Charta von 1950 ein wie auf heutige Repräsentanten der Vertriebenen. Einige Unterzeichner seien NS-belastet gewesen, so SPD und Grüne. Überdies sei in der Charta das Leid anderer Völker nicht gewürdigt worden. Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) und CDU-Abgeordnete, warf der Opposition einen „Mangel an Mitgefühl“ sowie eine „heutige, überhebliche Sicht“ auf die Charta vor. Zudem wies die BdV-Präsidentin darauf hin, dass die Vertriebenen nicht mehr Schuld an den NS-Verbrechen gehäbt hätten als andere Deutsche. München habe als „Hauptstadt der Bewegung“ gegolten, trotzdem seien die Münchener nicht vertrieben worden. Stephan Grigat, Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen (LO), erklärte, nachdem es für nahezu jede andere Opfergruppe einen oder mehrere Gedenktage beziehungsweise Gedenkstätten gebe, gebe es für die Vertreibungsopfer Nachholbedarf. Von der Bundesregierung verlautet, man werde dem Prüfauftrag nachkommen. Regierungsprecher Steffen Seibert verwies jedoch auf die „zurückhaltende“ Praxis der Regierung hinsichtlich neuer Gedenktage. - Hans Heckel. Recht auf Rache? Die Verbrechen der Nationalsozialisten werden zurecht als einmalig in der Geschichte bezeichnet. Die Vertreibung von rund 15 Millionen Deutschen, bei der mehr als zwei Millionen den Tod fanden, wiederum steht einsam an der Spitze der größten Massenvertreibungen der Menschheitsgeschichte. Warum das Gedenken an das eine das Gedenken an das andere schmälern oder, wie es vieldeutig heißt, „relativieren“ sollte, das bleibt das Geheimnis von Leuten, die immerfort vor „Aufrechnung“ warnen, um genau diese Aufrechnung ständig selbst zu betreiben. Staunend stehen wir nun abermals vor einer weiteren historischen Einmaligkeit: Wohl nie in der Geschichte haben sich wesentliche Teile der politischen Klasse eines Landes mit solcher Emphase, ja solcher Wut von weiten Teilen ihres eigenen Volkes losgesagt wie jüngst wieder SPD und Grüne im Bundestag von den deutschen Opfern der Vertreibung. Man sollte die Denkart, die dort gepflegt wird, nur einmal auf ein anderes Feld übertragen, um zu erahnen, wie absurd bisweilen argumentiert wird: Man stelle sich vor, jemand mordet wahllos Menschen in einer Menge. Vor Gericht gestellt, führt der Täter an, dass er gesehen habe, wie sich einzelne gesuchte Schwerverbrecher in die Menge geflüchtet hätten, weshalb seine Tat auch als gerechte Sühne zu betrachten sei. Die unschuldigen Opfer täten zwar schon leid, aber das müsse man „im Zusammenhang“ sehen. Was würden wir dem antworten? Genau das Gleiche, was allen entgegenzuhalten ist, welche die NS-Verbrechen gegen Vertreibungsverbrechen aufrechnen wollen: Die Untaten der braunen Herren und ihrer Handlanger geben nicht auch nur den Schimmer einer ethischen Rechtfertigung her für die Massenverbrechen an 15 Millionen Deutschen. Genau dies will Wolfgang Thierse offenbar nicht verstehen: Die Charta der Heimatvertriebenen von 1950 sei eine „Anmaßung“, weil die Vertriebenen wegen der NS-Verbrechen das „Recht auf Rache“ ohnehin verwirkt hätten. So erscheinen die NS-Verbrechen wieder als klammheimliche Rechtfertigung für die Vertreibungsverbrechen Und überhaupt: „Recht auf Rache“? Nicht weil sie auf ein solches „Recht“ großzügig verzichten wollten, erteilten die Vertrieben Rache und Vergeltung feierlich eine Absage, sondern weil sie die barbarische Unsitte von Rache und wieder Rache und nochmals Rache für immer begraben wollten. Sie waren, nur fünf Jahre nach dem Krieg, sittlich und zivilisatorisch weiter im Denken als ein Wolfgang Thierse, der heute noch von einem „Recht auf Rache“ schwafelt. Die Bundestagdebatte über einen „Tag der Vertriebenen“ zeigte, dass der Weg zur Versöhnung der Deutschen mit sich selbst noch ein sehr weiter sein wird.
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