Bei der Stimmenauszählung:
So mancher Auszähler will nicht nur der Demokratie dienen, sondern verfolgt eigene Ziele.

Außer Kontrolle
Bundestagswahlrecht begünstigt Fehler und Manipulationen
von Jan Heitmann

Seit der Bundestagswahl vergeht kein Tag, an dem nicht von Unregelmäßigkeiten bei der Feststellung der Wahlergebnisse berichtet wird. Was steckt dahinter?

Mal muss ein Landeswahlleiter einräumen, dass rund 100.000 Stimmen von Briefwählern wegen eines „Rechenfehlers bei der Statistik“ vorübergehend verschwunden waren und Erst- mit Zweitstimmen verwechselt wurden. Gleich aus mehreren Wahlbezirken gibt es Informationen über vorsätzliche Manipulationen bei der Ermittlung des Stimmenergebnisses für die „Alternative für Deutschland“ (AfD). Und schließlich kommt auch noch heraus, dass die Stimmen eines ganzen Wahlbezirks einfach unter den Tisch gefallen sind. Von offizieller Seite heißt es dann, das seien bedauerliche Fehler und stets Einzelfälle, die selbstverständlich keine Auswirkungen auf das Gesamtergebnis hätten. Bei einer nennenswerten Zahl bekannt gewordener Einzelfälle stellt sich dem Wähler unwillkürlich die Frage nach der Dunkelziffer und ob diese nicht sehr wohl Einfluss auf das Gesamtergebnis haben könnte. Das wirft ein Schlaglicht auf die Wahlmodalitäten.

Gemäß Bundeswahlgesetz sind die Mitglieder der Wahlorgane zur unparteiischen Wahrnehmung ihres Amtes, zur ordnungsgemäßen Durchführung der Wahl und der korrekten Ermittlung ihres Ergebnisses verpflichtet. Dennoch sind nicht nur Auszählungsfehler möglich, sondern auch vorsätzlicher Wahlbetrug, denn eine lückenlose Kontrolle oder Überprüfung der Wahlorgane gibt es nicht. Für jeden Bundestagswahlbezirk wird ein Wahlvorstand gebildet. Die Wahlvorstände bestehen aus dem freiwillig tätigen oder verpflichteten Wahlvorsteher als Vorsitzenden, seinem Stellvertreter und weiteren vom Vorsteher berufenen, ebenfalls freiwilligen oder herangezogenen Beisitzern. Zudem können auf Ersuchen der Gemeinde Behörden und öffentlich-rechtliche Körperschaften zur Bereitstellung von Personal verpflichtet werden. In beiden Fällen besteht die Möglichkeit, durch gezielte Personalauswahl eine bestimmte politische Homogenität des Wahlvorstandes sicherzustellen.

Bei der Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses sollen – nicht müssen – alle Mitglieder des Wahlvorstandes anwesend sein. Ein politisch nicht genehmes Mitglied könnte also unter einem Vorwand von der Auszählung ausgeschlossen werden. Bei der Auszählung gilt zwar das Mehraugenprinzip mit Ansage der einzelnen abgegebenen beziehungsweise ungültigen Stimmen, doch hätte ein Wahlvorstand, der sich einig ist, leichtes Spiel, das Wahlergebnis zu manipulieren. So lassen sich beispielsweise Wahlzettel problemlos ungültig machen oder verfälschen, von „Fehlern“ beim Zählvorgang ganz abgesehen. Hat der Wahlvorstand seine Arbeit beendet, meldet er das Wahlergebnis an die Gemeindebehörde, die wiederum ihr Gesamtergebnis dem Kreiswahlleiter mitteilt. Von diesem läuft der Meldeweg analog weiter über den Landeswahlleiter bis zum Bundeswahlleiter. Die Wahlunterlagen werden nach der Wahl verpackt, versiegelt und der Gemeindebehörde übergeben, die sie für Unbefugte unzugänglich zu verwahren hat. Die Stimmzettel können 60 Tage vor der nächsten Bundestagswahl vernichtet werden. Allerdings kann der Landeswahlleiter eine frühere Vernichtung genehmigen, soweit sie nicht für ein schwebendes Wahlprüfungsverfahren oder für die Strafverfolgungsbehörde zur Ermittlung einer Wahlstraftat von Bedeutung sein können.

Deutsche Politiker aller Couleur gehören stets zu den schärfsten Kritikern von Wahlmanipulationen – sofern sie im Ausland stattfinden. Die Mängel bei den Wahlen im eigenen Land sehen sie dagegen nicht oder wollen sie nicht sehen.


Es zählt der Zähler ...
Unregelmäßigkeiten bei Wahlen wissenschaftlich nachgewiesen

Dass das offiziell bekannt gegebene Ergebnis von Bundestagswahlen nicht den tatsächlichen Wählerwillen wiedergibt, ist sogar wissenschaftlich erwiesen. Die beiden Politikwissenschaftler Christian Breunig (Universität Toronto/Universität Konstanz) und Achim Goerres (Universität Köln/Universität Duisburg-Essen) haben die Bundestagswahlen von 1990 bis 2005 analysiert und sind dabei zu alarmierenden Erkenntnissen gelangt. In ihrem in der internationalen englischsprachigen Fachzeitschrift „Electoral Studies“ bereits im Jahre 2011 erschienenen Aufsatz „Searching for electoral irregulations in an established democracy: Applying Bendord’s Law tests to Bundestag elections in Unified Germany“ (Auf der Suche nach Wahlunregelmäßigkeiten in einer etablierten Demokratie: Die Anwendung des Tests nach Benfords Gesetz auf die Bundestagswahlen im vereinigten Deutschland) berichten sie über mit empirischen Methoden aufgedeckte Wahlmanipulationen.

Für ihre Studie über die Bundestagswahlen, die erste ihrer Art überhaupt, untersuchten die Autoren die über 80.000 Wahlbezirksergebnisse für jede der fünf im Untersuchungszeitraum durchgeführten Bundestagswahlen. Dabei bedienten sie sich des Bendfordschen Gesetzes aus der Statistik. Dieses beschreibt eine Gesetzmäßigkeit in der Verteilung der Ziffernstrukturen von Zahlen in empirischen Datensätzen. Demnach weisen die Ziffern 0 bis 9 in Zahlen eine ungleiche Häufigkeit auf. Beispielsweise kommt die 0 an der zweiten Stelle häufiger vor als die 9. Fällt das Ergebnis einer Stimmenauszählung dadurch auf, dass die Verteilung der Ziffern nicht dem Bendfordschen Gesetz entspricht, weist dies auf eine Unregelmäßigkeit bei dessen Ermittlung hin.

Auf diese Weise fanden Breunig und Goerres unter anderem heraus, dass es bei 13 Prozent der Erststimmenergebnisse auf Wahlkreisebene Manipulationen gegeben haben muss. Bei der Überprüfung der Zweitstimmenergebnisse ergaben sich Abweichungen von rund zehn Prozent. Zudem fiel hier auf, dass es, je dominanter eine Partei in einem Bundesland war, umso eher zu Unregelmäßigkeiten gekommen war. Versehentliche Fehler bei der Auszählung können nicht als Grund für die Abweichungen herhalten, denn eine aus der Statistik abgeleitete geringe Fehlerquote haben die Wissenschaftler bei der Ermittlung ihrer Forschungsergebnisse bereits berücksichtigt. Das macht vorsätzliche Manipulationen als Ursache für die Abweichungen wahrscheinlich.

Großangelegte Manipulationen von bestimmter Parteiseite schließen Breunig und Goerres allerdings aus. Sie betonen ausdrücklich, dass sie keinen Wahlbetrug nachgewiesen, sondern lediglich Indizien vorgelegt hätten, die auf Unregelmäßigkeiten hinweisen würden. Die empirische Analysemethode erlaube es zudem nicht, den Grund für diese Unregelmäßigkeiten zu ermitteln. Auch könne sie nicht aufzeigen, ob bestimmte Parteien dadurch benachteiligt oder bevorzugt wurden. - J.H.


Anfechtungen sind praktisch aussichtslos

Laut Artikel 41 Grundgesetz gibt es das Rechtsmittel der Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundestag, also kurioserweise bei dem durch die angefochtene Wahl installierten Parlament selbst. Den Einspruch kann jeder Wahlberechtigte innerhalb von zwei Monaten einlegen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass der Wahlprüfungsausschuss Anfechtungen routinemäßig als „offensichtlich unbegründet“ zurückweist. Dagegen ist die Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht zulässig, das sie in der Regel ohne weitere Begründung mit dem selben Argument zurückweist, nachdem es zuvor seine Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit und Begründetheit geäußert und den Beschwerdeführer der Form halber zur Stellungnahme aufgefordert hat. Dagegen gibt es kein Rechtsmittel mehr. Kaum erfolgversprechend ist auch eine Verfassungsklage, weil man sich beispielsweise durch das Wahlgesetz in seinen Grundrechten verletzt fühlt. Zudem muss der Rechtsweg ausgeschöpft sein. Die Möglichkeit der Wahlprüfung in einem Normenkontrollverfahren ist Verfassungsorganen vorbehalten. So könnte der Bundestag beispielsweise auf den Einspruch eines Bürgers hin eine Wahlrechtsnorm durch das Verfassungsgericht überprüfen lassen, was er allerdings noch nie getan hat.

Ein bewährtes Mittel, eine Wahlanfechtung auszuhebeln, ist das Hinauszögern der Entscheidung. So behandelt der Bundestag Eingaben wegen eines Normenkontrollverfahrens traditionell nicht, sondern teilt dem Bürger erst nach langer Zeit mit, dass er sich „nicht zur Bearbeitung berufen“ fühle. Das Verfassungsgericht lässt sich mit der Wahlprüfung mitunter so viel Zeit, dass sich die Beschwerde durch die Konstituierung des nächsten Bundestages von selbst erledigt. - J.H.

Quelle:
Preußische Allgemeine Zeitung / Das Ostpreußenblatt Ausgabe 40/13, 5.10.2013