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Grimikan - ein prußisches Liedchen
von Beate Szillis-Kappelhoff
"Sie würden daraus lernen, daß unter jedem
Himmelsstrich Dichter geboren werden, und daß lebhafte Empfindungen kein
Vorrecht gesitteter Völker sind. Es ist nicht lange, als ich in Ruhigs
Litthauischen Wörterbuch blätterte, und am Ende der vorläufigen Betrachtungen
über diese Sprache eine hierher gehörige Seltenheit antraf, die mich unendlich
vergnügte. Einige litthauische Dainos, oder Liederchen, nehmlich wie sie die
gemeinen Mädchen daselbst singen. Welch ein naiver Witz! Welch eine reizende
Einfalt."
Der dies schrieb, war kein geringerer als
Gotthold Ephraim Lessing. Zunächst muss berichtet werden, dass unter dem Begriff
"Litthauer" jene Menschen fielen, die im nördlichen Osptpreußen lebten, nämlich
im prußischen Nadrauen und Schalauen. Seit dem 15. Jh. siedelten immer mehr
Szemaiten und Litauer in dieser Region und vermischten sich mit den Prußen. Es
entwickelte sich ein eigenständiger Dialekt. Im südlichen Ostpreußen war die
prußische Sprache in Vergessenheit geraten, und so wurde die
nadrauisch-schalauische Gegend kurzerhand Preußisch-Litauen oder kurz Litthauen
genannt. Die Menschen hießen dem entsprechend Litthauer, egal welcher ethnischen
Herkunft sie tatsächlich waren. Aber gerade wegen ihrer Abgeschiedenheit vom
südlichen Ostpreußen hielt sich die alte Kultur in dieser Gegend sehr viel
länger.
Lessing schreibt von "Dainos". Das ist das
litauische Wort für Liedchen, prußisch heißt es "grimikan". Und wenn man diese
Liedchen liest, kann man Lessing nur zustimmen. Viele sind erotischer Natur.
Eines der ältesten Liedchen befasst sich mit einer delikaten göttlichen
Dreiecksgeschichte. Sie handelt vom Mondgott Menulis, dem Gatten der
Sonnengöttin Saule und ihrer gemeinsamen Tochter Auschrine, der Venus, auch
Abend- und Morgenstern. Menulis, der in Hengstgestalt das Nachthimmelsmeer
durchschwimmt, sah seine Gattin selten, dafür jedoch immer morgens und abends
seine Tochter Auschrine. So kam es zu einem Verhältnis zwischen ihnen. Saule war
darüber so ärgerlich, dass sie Menulis aus ihrem Angesicht verbannte. Nach einer
anderen Überlieferung wurde Menulis vom Donnergott Perkunas in zwei Teile
gehauen.
Es nahm der Mond die Sonne,
Da war der erste Frühling.
Die Sonne stand schon früh auf,
Der Mond verbarg sich scheidend.
Der Mond wandelte einsam,
Gewann den Morgenstern lieb.
Darob ergrimmte der Donnergott,
Zerhieb ihn mit dem Schwert.
In einem anderen Liedchen fragt eine Mutter ihre
Tochter:
Liebe Tochter Simonene,
Wo erhieltest du den Knaben?
Mutter, Mutter, meine Ehre,
Durch die Träume kam er.
Ein späterer Zeitzeuge, Otto Glagau, berichtet im
19. Jh. leicht irritiert, dass "die jungen Mädchen ein Trinklied anstimmen, wie
es sonst von Studenten und lustigen Zechbrüdern gesungen wird.
Nimm das Gläschen in die Rechte.
Trink es Liebster bis zur Hälfte.
Du mußt´s leeren bis zum Boden.
Stülp es um ohn´ Einen Tropfen.
Wieviel Tropfen, soviel Gläser.
Gieb´s zurück, wo´s angefangen.
Bei der langen Schlußfermate auf der Dominante
wird regelmäßig und nach dem Takt getrunken... Das Zutrinken wird nicht anders
gehandhabt wie bei einem burschikosen Commerce. Nach der letzten Strophe ertönt
das Sweiks, Sei gesund!... Noch verwunderlicher ist´s, daß auch diese lustigen
Zechlieder sich in weicher Tonart bewegen, sich wie Trauergesänge oder
feierliche Choräle anlassen."
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