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Der Preis des kostenlosen Specks aus der Mausefalle Das Kaliningrader Gebiet versinkt immer tiefer im Strudel der skandalösen Ereignisse rund um die Übergabe der Kirchengebäude aus dem Staatseigentum in das Eigentum der russisch-orthodoxen Kirche. Die Entscheidungen der Regierung tragen zu Konflikten in der Gesellschaft bei und verschärfen die Spannungen zwischen den Konfessionen. Zwischenstaatliche Probleme treten zum Vorschein. Wir als Redaktion ahnten die Möglichkeit einer solchen negativen Entwicklung (siehe unseren letzten Artikel zu diesem Thema in der KA, № 12, vom Juni 2010). Diese negative Entwicklung hätte verhindert werden können, wenn die Staatsduma das Gesetz zur Übergabe der kirchlichen Gebäude, das mit dem Beginn des neuen Jahres wirksam wird, mit einem Zusatzartikel zum Sonderstatus des Kaliningrader Gebietes ergänzt hätte. Doch das geschah nicht. Unsere Befürchtungen wurden Realität. Eine vorher bestimmte Entscheidung Zur Erinnerung: noch vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes übergab die föderale Regierung etwa fünfzig Objekte mit „religiöser Bestimmung“ in das Eigentum der russisch-orthodoxen Kirche. Dabei handelte es sich um Gebäude, die von Katholiken und Protestanten zur Zeit Ostpreußens errichtet wurden. Eilig folgte auch die Gebietsregierung diesem Beispiel und es kam zur Übergabe von Gebäuden aus dem staatlichen Eigentum des Kaliningrader Gebietes. Und dann brach der erste Skandal aus. Die Abgeordneten der Gebietsduma verweigerten auf einer Sitzung am 7. Oktober die Übergabe von 15 Objekten. Darunter befindet sich auch das Kirchengebäude von Arnau (heute Marjino), die katholische Pfarrkirche zur Heiligen Familie, in der heute die Kaliningrader Philarmonie beherbergt ist, weiterhin die Luisenkirche (heute Gebäude des Puppentheaters), das Kirchengebäude in Tollmingkehmen (heute Tschistye Prudy), wo das Museum des lutherischen Pastors und Literaten Christian Donalitius beheimatet ist und die Ruinen einer Reihe von Ordensschlösser. Die Stimmen reichten jedoch für eine notwendige Mehrheit nicht aus, weil nur wenige der Abgeordneten von der Regierungspartei „Einiges Russland“ anwesend waren. Allein das ist der einzige Grund. Und das bedeutet, dass die Entscheidung rein zufällig geschah und nicht aus Überzeugung der Mehrheit der regionalen Abgeordneten. Dass die tatsächliche Entscheidung noch vor der Abstimmung feststand, ist also ganz offensichtlich. Und nichts konnte die Abgeordneten der Partei „Einiges Russland“ davon abbringen, die Entscheidung auch offiziell auf einer zusätzlichen Sitzung am 28. Oktober durchzukriegen. Nur die „Donalitius-Kirche“ wurde aus der Liste genommen. Der Gerechtigkeit wegen muss man erwähnen, dass die Polemik in der Gebietsduma wirklich umfassend war. Besonders laut wurden die Stimmen der Abgeordneten aus den unterschiedlichsten Strömungen der Opposition. Viel und ergreifend sprach Wladimir Ryschkow, der Vorsitzende der regionalen Assoziation der Reiseleiter und Übersetzer. Er führte den Anwesenden einen möglichen Verlust jener Gebäude vor Augen, von denen jedes einzelne ein kulturgeschichtliches Denkmal ist. Die Direktorin des Museums „Friedländer Tor“, Swetlana Sokolowa, nannte den Vorgang „eine Katastrophe für die Kultur der Region“. Doch das bewegte die Mehrheit der Abgeordneten nicht dazu, ihre Position zu
ändern. Wir wollen die Intention der Mehrheit der Abgeordneten kurz zusammenfassen: Man muss es bis zum 01. Januar 2011 schaffen, alles an die russisch-orthodoxe Kirche zu übergeben, denn von diesem Zeitpunkt ab gilt das neue Gesetz, wonach die Kirchen nur an ihre ehemaligen Besitzer übergeben werden können: an die römisch-katholischen Kirche und an die Protestanten. Es folgt die Argumentation, dass die „alten“ Eigentümer kulturelle und bildende Einrichtungen vor die Tür setzen würden. Die russisch-orthodoxe Kirche hingegen habe versprochen, sie zu bewahren. So sprach Alexander Kusnezov, ein Abgeordneter von der Partei „Einiges Russland“, folgende Worte: „Wenn wir diesen Schritt nicht heute tun, werden wir morgen all das verlieren, zumindest in der Gestalt, wie es gegenwärtig verwendet wird.“ Unterstützt wird er von vielen seiner Parteigenossen, z.B. von Felix Alexeev: „Angesichts des neuen föderalen Gesetzes haben wir einfach keine Wahl.“ Die Position der begünstigten Seite, der russisch-orthodoxen Kirche, ist ähnlich. Doch wenn man anfangs die Gefahr betonte, die vom Gesetz zur Übergabe der kirchlichen Bauten ausgehen würde und den Wunsch berücksichtigt, diese Gefahr abzuwenden, werden heute auch andere Motive erläutert. Der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Kaliningrader Gemeinde der russisch-orthodoxen Kirche, Michail Seleznew, teilte während eines Interviews einem Internetportal mit: „Nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes wird kein Objekt mehr zum Eigentum der russisch-orthodoxen Kirche werden können. Das ist der Hauptgrund für die Massenübergabe der kirchlichen Baueinrichtungen im Kaliningrader Gebiet.“ Zunächst müssen wir der Frage nachgehen, wie real die Gefahr ist, vor der die regionale Regierung und die russisch-orthodoxe Kirche warnen. Es ist schwer, Vorhersagen zu treffen. Das föderale Gesetz ist noch nicht in Kraft getreten, es sind noch nicht einmal alle notwendigen Lesungen im Parlament durchgeführt worden, von der Unterschrift des Präsidenten ganz zu schweigen. Deshalb gibt es keine Praxis zur Anwendung des Gesetzes. Die Gefahren könnten sich verwirklichen; vielleicht aber auch nicht. Andererseits weisen die Opponenten darauf hin, dass das Gesetz eine Klausel enthält, welche die Ansprüche religiöser Organisationen mit leitenden Zentren im Ausland begrenzt. Und als Letztes sieht das Gesetz keine sofortige Räumung öffentlicher Einrichtungen aus den Kirchengebäuden vor. Für die Suche und den Bau neuer Räumlichkeiten wird eine Frist von sechs Jahren nach der positiven Entscheidung zur Übergabe des Objektes erteilt. Die Stimmung brodelt. Man muss blind sein, um es nicht zu erkennen. Und blind ist nicht einmal der russische Patriarch Kirill. Mit einem besonderen Apell wendete er sich an die Einwohner des Gebietes. Er sagte, dass es nicht immer leichte Lösungswege für Probleme gäbe und garantierte die Bewahrung der kulturellen Einrichtungen innerhalb der kirchlichen Wände. Doch der Zwiespalt wird von Tag zu Tag größer und die banale Eigentumsfrage
droht sich in eine Glaubensfrage zu verwandeln, eine Frage der Beziehung
zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Die eilige Übergabe der Pfarrkirche zur Heiligen Familie an die russisch-orthodoxe Kirche führte zu einer scharfen Kritik durch den katholischen Bischof von Moskau, Paul Pezzi. Schließlich erhob die katholische Kirche 20 Jahre lang Anspruch auf das Gebäude, welcher mit der Begründung „unmöglich“ abgelehnt wurde. Er nannte die Übergabe des Kirchengebäudes an die orthodoxe Kirche einen tiefen Fehler und beschuldigte faktisch die Regierung der Diskriminierung nach der Glaubenszugehörigkeit. Die Kaliningrader Gemeinde der russisch-orthodoxen Kirche antwortete im ähnlich scharfen Ton darauf: „Solche Erklärungen sind dazu fähig, die Zusammenarbeit zwischen unseren Kirchen erheblich zu stören, nicht nur innerhalb des Kaliningrader Gebietes“. Wird der Konflikt zwischen den beiden christlichen Konfessionen zum Eskalieren
kommen? Wird man es schaffen, den religiösen Frieden, die Zusammenarbeit und
die Toleranz, durch welche sich das Kaliningrader Gebiet immer auszeichnete, zu
bewahren? Noch vor einigen Monaten erschienen diese Begriffe als fest verankert.
Die öffentliche Resonanz über die Entscheidung der Regierung, welche ohne eine breite Diskussion mit der Öffentlichkeit getroffen wurde, mündete gar in großen Protestaktionen. Am 14. November fand in Kaliningrad eine Demonstration gegen die Übergabe des Gebietseigentums in das Eigentum der russisch-orthodoxen Kirche statt. Etwa 250 bis 300 Menschen versammelten sich. Zieht man in Betracht, dass die Organisatoren des Meetings weder bekannte, noch einflussreiche politische Personen waren, ist das eine große Menge. Die beiden Parteien „Patrioten Russlands“ und „Jabloko“ schlossen sich der Demonstration an. Der Hauptanteil der Demonstranten wurde nicht wie gewohnt von politischen Aktivisten gebildet, sondern von Vertretern kreativer Berufe wie Lehrern, Universitätsprofessoren und Mitarbeitern bestimmt. Neben der Kritik der Regierung kam die antiklerikale Stimmung auf den Plakaten zum Ausdruck. Wahrscheinlich, ist es wieder so ein typisches und einmaliges Kaliningrader Ereignis. Gegen die russisch-orthodoxe Kirche gab es in Russland bisher keine Demos. Parallel dazu sprachen einige Dutzend Kultur- und Kunstmitarbeiter der Region
ihre negative Einstellung zur gegenwärtigen Lage in einem Brief an den
Präsidenten Dmitrij Medwedew aus. Man bat ihn, eine Änderung in das Gesetz
einzubringen, die die Lage normalisiert. Die Christ Erlöser Kirche ist gegenüber dem Platz der Demonstration. Nach einigen gescheiterten Versuchen gelingt es uns Redakteuren der „Königsberger Allgemeinen“, mit einer Kirchenbesucherin zu sprechen. „Ob ich von der Demonstration weiß? – Natürlich“, sagt Olga. „Und ich bin ihr gegenüber negativ eingestellt. Da wird das Ansehen der Kirche untermauert, davon habe ich im Internet genug gelesen.“ Wir stellten die Frage nach ihrer persönlichen Meinung zur Übergabe der
Philharmonie- und Theatergebäude an die russisch-orthodoxe Kirche. Daraufhin
wollte Olga gehen, entschloss sich kurzerhand aber doch noch, die Frage zu
beantworten: Nach diesem Interview fragten wir auch einen Abgeordneten aus der Opposition, den Vorsitzenden der Partei „Russlands Patrioten“ und Gewerkschafts- aktivisten Michail Tschesalin, nach seiner Meinung zum Thema. „Die Partei Einiges Russland weiß um ihre schlechten Umfrage- und Rankingergebnisse und versucht deshalb, die russisch-orthodoxe Kirche zu missbrauchen, um die Gläubigen für die nächste Wahl zu gewinnen. Dafür sind sie bereit, sogar etwas in die Waagschale zu werfen, was ihnen eigentlich gar nicht gehört, sondern Volkseigentum ist.“ Damit etwas ins Eigentum überführt werden kann, muss das Objekt zunächst
registriert und ins Grundbuch eingetragen werden, genau wie das anliegende
Grundstück. Das wurde nicht getan. Dazu kommt noch, dass Ruinen in der
russischen Gesetzespraxis noch nicht als Immobilie betrachtet wurden. Was soll
dann an die Kirche übergeben werden? Das ist Theater des politisch Absurden. Doch Theater ist keine harmlose Angelegenheit. Diesbezüglich sagte Tschechov: „Hängt in einer Theateraufführung im ersten Akt ein Gewehr an der Wand, so wird es im Letzten unbedingt schießen.“ Ob der Staat versteht, was er tut? Seine Reaktion lässt keine positive Antwort
vermuten. Als dieser Artikel geschrieben wurde, ging das Gesetz zur Übergabe des
kirchlichen Gebäudes erfolgreich in die zweite Lesung; der Fall Kaliningrad
wurde erst gar nicht neu diskutiert. Schon der ehemalige Gouverneur Georgij Boos sagte, dass eine Bitte um Veränderung eingereicht wurde. Doch Michail Tschesalin zweifelt das an: „Die Gebietsregierung hat keine gesetzgebende Inintiative bei der Staatsduma. Die Vorschläge zu Gesetzesänderungen und Verbesserungen können nur über die Gebietsduma eingebracht werden. Und ich als Abgeordneter habe von diesen nichts gehört und keine Dokumente zu diesem Thema gesehen“. Ja, das alles ähnelt einem Spiel. Doch wer geht daraus als Sieger, wer als Verlierer hervor? Ein russisches Sprichwort sagt: „Kostenlosen Speck gibt es nur in der Mausefalle“. Und den wahren Preis des heute unentgeltlich übergebenen Eigentums werden wir erst später erfahren. Der kleinste denkbare Preis ist das Ansehen der russisch-orthodoxen Kirche im Kaliningrader Gebiet. Für Russland, ein Land, in dem die Politiker und die Regierung jedes Ansehen schon längst verspielt haben, kann es einen schweren demoralisierenden Schlag darstellen. - Marina BELOWA
___________________________________ weitere Berichte zum Eigentumsstreit im Ostdeutschen Diskussionsforum unter: auf den Netzseiten des Kuratoriums Arnau e.V.: |
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