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Woher kommt das große Schweigen? Woraus resultiert die Zurückhaltung bei der Darstellung dieser Leiden? Warum haben die Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen, obgleich sie unzweifelhaft zu den schlimmsten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges gehören, bis heute so wenig öffentliche Aufmerksamkeit gefunden? Woher kommt das große Schweigen? Es mag dafür viele Gründe geben. Die wichtigsten sollen im Folgenden genannt werden. Vor allem unter Politikern, Historikern und Journalisten, nicht dagegen unter den Opfern, ist die Sorge weit verbreitet, die Schilderung der Vergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen könnte zu einer „Relativierung“ der von Deutschen – vor allem in Russland – während des Krieges begangenen Verbrechen führen. Diese Sorge ist jedoch unbegründet. Niemand, der sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges ernsthaft beschäftigt, wird bestreiten, dass unter dem NS-Regime zahlreiche schwere und schwerste Verbrechen in den damals besetzten Teilen der Sowjetunion begangen worden sind. Die massenhafte Ermordung von Juden, beispielsweise in Babij Jar, ist dafür ein schlimmes Beispiel. Nur: Das Gewicht des Unrechts der von Deutschen im Krieg begangenen Verbrechen wird um kein Gramm leichter, wenn man auch der an Deutschen begangenen Verbrechen erinnert. Das eine steht neben dem anderen – beides ist geschehen. Wer über das Leid der ostpreußischen Frauen 1944/45 spricht, „relativiert“ nichts, sondern sagt nur die Wahrheit. Zum Schweigen darüber gehört auch die Tatsache, dass in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) und nach deren Gründung in der DDR niemand – auch nicht die Opfer – über die Massenvergewaltigungen durch russische Soldaten sprechen durfte. Der „große Bruder“ (die Sowjetunion) durfte nicht kritisiert werden und schon gar nicht das Verhalten der „ruhmreichen Sowjetsoldaten“ im „Großen Vaterländischen Krieg“. Schon die kleinste Kritik konnte als „antisowjetische Hetze“ gedeutet und bestraft werden. In den Schulbüchern der DDR wurden die Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen mit keinem Wort erwähnt; zu lesen war dort nur: „Der Krieg fand nun dort statt, von wo er ausgegangen war: auf deutschem Boden.“ Über das Leid einer damals in Mecklenburg lebenden Frau berichtet Ingeborg Jacobs in ihrem Buch „Freiwild – das Schicksal deutscher Frauen 1945“: „Von den Verletzungen an Körper und Seele, die ihr durch die Vergewaltigungen zugefügt worden waren, wollte niemand etwas hören. Im Osten Deutschlands wurde dieses Thema, das so vielen Frauen auf der Seele brannte, verschwiegen und tabuisiert.“ Die Opfer in der DDR mussten schweigen, die Täter in der Sowjetunion wollten schweigen. Feldpostbriefe von russischen Soldaten enthalten aus verständlichen Gründen über Vergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen „wenn überhaupt, zumeist nur vage Andeutungen, die eine persönliche Beteiligung der Schreibenden fast nie erkennen lassen“ (Manfred Zeidler). Verständlich ist dieses Schweigen deshalb, weil die – oft unter Androhung von Waffengewalt erzwungenen und von mehreren Tätern gemeinschaftlich begangenen – Vergewaltigungen wehrloser Frauen und Mädchen wahrlich keine Heldentaten waren, auf welche die Täter stolz sein konnten. Offensichtlich ist das den deutschen Frauen und Mädchen 1944/45 von russischen Soldaten zugefügte Leid auch heute noch in Russland kein Thema. In Russland wird das Thema Leiden der deutschen Opfer bedauerlicherweise einfach verdrängt. Einer Darstellung der Leiden deutscher Opfer steht auch die im Ausland verbreitete Auffassung entgegen, das „Volk der Täter“ könne nicht zugleich auch Opfer zu beklagen haben. Diese Sichtweise ist schlicht falsch. Zunächst suggeriert der Ausdruck „Volk der Täter“ den Eindruck, dass alle Deutschen Täter von NS-Verbrechen oder Kriegsverbrechen gewesen seien. Es stimmt: Viele Deutsche waren Täter, aber eben nicht alle. Die Frauen und Mädchen, die 1944/45 Opfer von Gewalttaten wurden, waren nie vorher in Russland gewesen und schon deshalb nicht an den dort von Deutschen begangenen Untaten beteiligt. Dass es heute besonders unsinnig ist, vom „Volk der Täter“ zu sprechen, zeigt schon die Tatsache, dass mehr als 95 Prozent der jetzt lebenden Deutschen 1933 überhaupt noch nicht geboren waren, und dass mehr als 83 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung erst nach 1945 geboren sind. Nicht nur Täter schweigen, sondern auch viele Opfer. Bemerkenswert ist, dass im Jahre 1986, um ein willkürlich gewähltes Jahr herauszugreifen, nur jede zehnte vergewaltigte Frau in der Bundesrepublik das an ihr begangene Verbrechen angezeigt hat. Ein Schweigen des Opfers unmittelbar nach der an ihm begangenen Gewalttat folgt wohl auch aus der Schocksituation. In einem Fall, in dem ein russischer Offizier eine verängstigte Frau unter Hinweis auf seinen Offiziersrang beruhigte, sie dennoch vergewaltigte und noch vier betrunkene Kameraden zu ihr schickte, berichtet diese Frau: „Da habe ich kennengelernt, was ein Mensch aushalten kann, ich konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr weinen, ja nicht einmal einen Laut von mir geben“ (Günter Böddeker). Es kam aber auch vor, dass ein Opfer über das ihm zugefügte Leid sprechen wollte, aber niemand mit ihm darüber reden wollte. Ingeborg Jacobs zitiert die Erinnerung eines als zwölfjähriges Mädchen in Ostpreußen vergewaltigten Opfers: „Immer hatte ich den Drang gehabt, über die Vergewaltigung zu sprechen, aber es sprach niemand mit mir darüber. Meine Mutter nicht und meine Geschwister nicht. Ich hätte es am liebsten in die Welt hinausgeschrien.“ Gabi Köpp, als 15-jähriges Mädchen in einem Dorf in Westpreußen vergewaltigt, erzählte mir, sie habe – nach jahrelanger Trennung von ihrer Mutter – mit dieser über ihre Vergewaltigung sprechen wollen. Die Mutter habe dies abgelehnt, hatte ihr aber immerhin gesagt, sie möge ihr Erlebnis aufschreiben – was Gabi Köpp dann auch später getan hat. Es muss für eine Tochter deprimierend sein, wenn ihre Mutter ein Gespräch über das schreckliche Erleben der Tochter verweigert. Aber auch hier müssen wir nach einer Erklärung für das Schweigen suchen; sie kann gesehen werden in dem Leid der Mutter, das nicht nur darin liegt, dass ihre Tochter Opfer einer Gewalttat wurde, sondern auch darin, dass sie – die Mutter – diese Gewalttat nicht verhindern konnte, in vielen Fällen sogar mit ansehen musste. Aus der Kinderpsychologie ist bekannt, dass Kinder ein Urvertrauen zu ihren Eltern haben, vor allem ein Vertrauen in Schutz durch die Eltern gegen die einem Kind drohenden Gefahren. Wenn die Eltern oder ein Elternteil diesen Schutz nicht gewähren können, leidet nicht nur das Kind, sondern auch der gegen jene Gewaltausübung ohnmächtige Elternteil. In dieser Wunde stochert niemand gern. Das große Schweigen trifft aber nicht nur Eltern und Töchter, sondern auch Geschwister und Kinder und Enkelkinder. Viele Opfer schweigen aus Scham. Aber wir alle sollten den Opfern jener Gewalttaten immer wieder zurufen: „Ihr müsst euch überhaupt nicht schämen. Schämen müssen sich die Täter.“ Zurufen müssen wir aber auch der medialen Öffentlichkeit und den Politikern: Die Leiden der deutschen Frauen 1944/45, insbesondere der ostpreußischen Frauen, dürfen nicht verdrängt und nicht vergessen werden. Das Nicht-Vergessen-Dürfen steht dem Gedanken und der selbstverständlichen Notwendigkeit der Versöhnung zwischen den Völkern nicht entgegen. Deshalb sollten die deutschen Politiker sich dem Thema der Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45 ausführlicher als bisher zuwenden. Gabi Köpp schrieb im März 2005 an den damaligen Bundespräsidenten einen Brief mit der Schilderung ihrer schrecklichen Erlebnisse, in dem sie ausführte: „Weshalb erzähle ich Ihnen das? Weil es mich kränkt und tief verletzt, dass die offiziellen Vertreter unseres Landes und meines eigenen Volkes, dem ich mich zugehörig fühle, sich bis heute nicht dazu durchringen können, solche Schicksale ihrer eigenen Landsleute zumindest zu achten. Schicksale, die schwere seelische Folgen hatten, mit denen die Betroffenen nicht selten drei bis vier Jahrzehnte alleine gelassen wurden … Ich werde böse bis zornig, immer wieder von offizieller oder medialer Seite hören zu müssen: ,Ja wir wissen – doch dürfen wir nicht vergessen, was die Ursache war. Weshalb das geschah.‘ Diese maßlose Überheblichkeit tut weh“ („Treibgut des Krieges“). An den heute im Amt befindlichen Bundespräsidenten unseres Landes sollte deshalb die berechtigte Bitte herangetragen werden: Sorgen Sie dafür, dass die Leiden der ostpreußischen Frauen 1944/45 nicht verschwiegen, nicht verdrängt und nicht vergessen werden! Die Fundstellen der Zitate in diesem Zeitungsartikel sind in dem vom Verfasser erschienenen Buch „,Frau, komm!‘ Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45“ veröffentlicht. Der Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Verfasser bei der Kreisgemeinschaft Angerburg gehalten hat.
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