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Euro-Kriese: In vordemokratischen Gesellschaften standen Gesetz und Richter über dem Staat und seinen Politikern. Das war im Judentum so und in der griechischen Polis, sei es Athen oder Sparta. Doch das System schützte nicht vor Justizskandalen wie den Morden an Sokrates und Jesus Christus oder den späteren Ketzerverbrennungen im Namen des Kirchenrechts. Seit der Aufklärung regiert in den westlichen Demokratien die Göttin der Vernunft, versachlicht in der Herrschaft der Gesetze, institutionalisiert in den Gerichten. Zwei von ihnen lassen die nur zu oft einseitige und interessenbezogene Gesetzgebung des modernen Parteienstaats durch Verfassungsgerichte kontrollieren: die USA und Deutschland. Die Unterschiede in der Praxis beider höchster Gerichte sind aufschlußreich. Der U. S. Supreme Court greift nur zögerlich in Staatsaktivitäten ein. Aber wenn, dann massiv, um strukturelle Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft zu beseitigen wie Rassendiskriminierung, Beschränkungen der Bürgerfreiheit oder der Religionsausübung. Die soziale Unterentwicklung der US-Gesellschaft liegt ihm weniger am Herzen. In Deutschland liegt der Fall eher umgekehrt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat großes Verdienst am bis heute sozial ausgewogenen Binnenklima unserer Gesellschaft. Es hat der Mitbestimmung der Arbeitnehmer zum Durchbruch verholfen, zahlreiche Diskriminierungstatbestände gegenüber Familie, Frauen und sozial Schwachen behoben oder die Rechte von Minderheiten gestärkt. Es hat viel dazu beigetragen, Deutschland sozial und wohnlich zu machen. Zur Staatsdoktrin erhobene Entleerung der Eigenstaatlichkeit Dagegen legt das BVerfG eine merkwürdige Scheu an den Tag, wenn es gilt, Staat und Verfassung vor den „großen“ Herausforderungen und Zumutungen unserer Zeit von außen zu schützen – selbst wenn diese die Substanz angreifen. Das betrifft den Kriegseinsatz der Bundeswehr in fremden Erdteilen, mehr noch die zu deutscher Staatsdoktrin erhobene Entleerung der Eigenstaatlichkeit durch die Übertragung ältester Staats- wie Parlamentsrechte an die EU und deren Organe, etwa der Geldhoheit und neuerdings der Fiskalhoheit, ihres einstmals siamesischen Zwillings. Im Maastricht-Urteil von 1993 erklärte das BVerfG Deutschlands Verzicht auf seine eigene Währung für rechtens. Es machte jedoch den Vorbehalt, daß der neue Euro gleich stabil sein und bleiben müsse wie die D-Mark. Das Gericht prüfte weder die Verfassungsmäßigkeit dieses die Staatsfunktion aushöhlenden Vorgangs noch den Realitätsgehalt der von ihm selber für zwingend erachteten Voraussetzungen dafür. Es handelte nicht wie ein Verfassungsschützer, sondern wie ein Notar. 1998 nahm das BVerfG seine Kompetenz als Schutzorgan der Verfassung noch mehr zurück. Es wies die Verfassungsklage von vier Professoren „als offensichtlich unbegründet“ zurück, weil ja – siehe das Urteil von 1993 – die Formalien des Währungsverzichts gestimmt hatten und der Wahrheitsbeweis für die eindringlich dargelegten ökonomischen Konsequenzen dieses Schritts nicht erbracht sei. Sprich: Erst wenn die Katastrophe des Verzichts auf die eigene Währung eingetreten sei, könne sich das Gericht mit dem Vorgang befassen. Das ist jetzt der Fall. Bei der neuen und erweiterten Verfassungsklage der jetzt fünf Professoren gegen den sogenannten Finanzmarkt-Stabilisierungsfonds und Stabilisierungsmechanismen der Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion (EWU) geht es nicht um die Prüfung von Formalien bei der jetzt notwendig gewordenen Stützung des Euro, sondern um die Ahndung klarer und folgenreicher Rechtsbrüche in den EU-Verträgen. Und es geht auch nicht um das hypothetische Abwägen von Folgen, die eintreten könnten – sie sind es bereits und sollen auch in Zukunft in Kauf genommen werden. 70 Prozent der deutschen Fiskalhoheit zur Disposition? Mit Euro-Stabilitätspakt und „No Bailout“-Klausel werden die beiden Stabilitätsanker der EU-Verträge beseitigt. Nach der Geldhoheit werden jetzt bis zu 70 Prozent der deutschen Fiskalhoheit (nämlich der Jahressteuereinnahmen des Bundes) zur Disposition einer dubiosen EU-Zweckgesellschaft luxemburgischen Privatrechts gestellt. Das ist rechtlich gesehen ein Staatsstreich und ökonomisch ein Blankoscheck für die Schuldnerländer, weiterzumachen wie bisher. Deutschlands Bürger wie die der anderen in die Haftpflicht genommenen EU-Staaten (allen voran Niederlande, Finnland, Österreich) dürfen sich fragen: Was ist ihr Euro noch wert, wenn er durch Subventionen aus ihrem Steuersäckel gestützt werden muß? Was ist von einem Europa zu halten, das sich nur durch die Preisgabe seiner Wurzeln (Demokratie, Rechts- und Sozialstaat) zusammenhalten und weiterentwickeln läßt? Europas Staaten sind für ihre Bürger geschaffen worden, nicht für eine EU, die diese Bürgerrechte in Frage stellt. Die EU steht nicht über diesen Rechten und Werten, sie lebt von ihnen. Und diese sind ohne ein stabiles Geldwesen und handlungsfähige Staaten nicht zu verwirklichen. Das ist nicht Nationalismus, sondern Konstitutionalismus. Ob sie dem Volk, dem sie als Souverän ihr Mandat verdanken, dieses aus den Fugen geratene Europa zumuten können – darüber müssen Deutschlands Verfassungsrichter jetzt entscheiden. Prof. Dr. Wilhelm Hankel klagt zusammen mit den Professoren Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider, Dieter Spethmann und Joachim Starbatty gegen die Finanzhilfen Deutschlands für Griechenland und den sogenannten Rettungsschirm der EU.
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