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„Massenmord war die Idee“ Das Interview mit Edvins Snore führte Moritz Schwarz. Herr Snore, Ihr Film „The Soviet Story“ hat in Rußland zu heftigen Protesten geführt. Snore: Die staatlichen Medien im Lande haben uns mit einer massiven Propaganda-Kampagne überzogen, dabei war der Film zu diesem Zeitpunkt in Rußland noch gar nicht aufgeführt worden. Die Hysterie kulminierte schließlich darin, daß aufgebrachte Protestierer eine Puppe von mir in den Straßen Moskaus verbrannten. Der britische „Economist“ nannte das „eine Art Oscar-Verleihung“ für Ihren bereits mehrfach preisgekrönten „packenden, mutigen und kompromißlosen“ Film. Snore: Ja, wir sind froh, daß der Film im Westen fast durchweg auf ein positives Echo gestoßen ist. Die Europa-Premiere etwa fand im April 2008 im Europäischen Parlament statt, in den USA hat ihn die Washingtoner Heritage-Foundation aufgeführt, und inzwischen lief er dort auch im Fernsehen. In Deutschland dagegen nicht, warum? Snore: Tja, es gibt leider noch nicht einmal eine deutsche Synchron-Fassung. Wir standen mit einem deutschen Verleih in Verhandlungen, leider ist aber nichts daraus geworden. Das deutsche Publikum kann aber die Original-DVD auf unserer Netzseite bestellen, die unter anderem deutsche Untertitel enthält. Ihr Laudator, der Historiker Lee Edwards, sagte bei der Premiere in Washington: „Jeder weiß von Hitlers Holocaust, mit sechs Millionen Toten ... aber kaum jemand weiß etwas über den noch größeren Holocaust, für den der Kommunismus verantwortlich ist: tote Männer, Frauen und Kinder in zweistelliger Millionenhöhe.“ Snore: Edwards, ein anerkannter Wissenschaftler in den USA, hat recht. Das westliche Publikum hat eine westliche Perspektive und in der kommt das letztgenannte kaum vor. Als vor ein paar Jahren das Thema kommunistische Vergangenheitsbewältigung im Europäischen Parlament diskutiert wurde, mußten wir feststellen, daß die meisten Westeuropäer weder die Tragweite noch die tiefe Notwendigkeit der Frage ermessen, ob wir wirklich angemessen mit der historischen Aufarbeitung des sowjetischen Systems umgehen. Wir wollten daher mit unserem Film die osteuropäische Perspektive mitteilen, die sich dieser Notwendigkeit absolut bewußt ist. Und diese Perspektive zeigt was? Snore: Aus westlicher Sicht erzählt sich – grob gesagt – die Geschichte des Zweiten Weltkriegs so: Es entstand eine Macht des Bösen in der Welt und das war Nazi-Deutschland. Nach 1945 war die Welt davon befreit und von da ab lebte man in großer Erleichterung der Zukunft zugewandt. Die osteuropäische Realität war aber eine ganz andere: Für uns war 1945 nichts zu Ende, denn es gab nicht nur ein Übel, sondern zwei: neben Nazi-Deutschland die UdSSR und den Kommunismus, eine Macht, die ebenso wie die Nazis Konzentrationslager unterhielt, ja sogar das größte KZ-System der Welt betrieb, die Genozide verübte und die halb Europa besetzt hielt. Ihr Film präsentiert zwar kaum neue Fakten – allerdings ist er in einer Diktion gehalten, die man sonst nicht vernimmt. Snore: Weil selbst in der meisten Berichterstattung über die Verbrechen des Kommunismus bis heute folgende Grundannahmen vorherrschen: Erstens, der Kommunismus habe es gut gemeint, Stalin und andere hätten ihn lediglich pervertiert. Zweitens, dem Kommunismus sei es hoch anzurechnen, daß er ein strenger Antagonist zum Nationalsozialismus gewesen sei. Drittens, der UdSSR sei es hoch anzurechnen, daß sie Europa von Hitler befreit habe. Hat sie etwa nicht? Snore: Tatsache ist, daß der Hitler-Stalin-Pakt erst den historischen Ausbruch des Zweiten Weltkriegs möglich gemacht hat und daß Polen 1939 nicht von einer Macht, sondern von zweien, nämlich Deutschland und Rußland überfallen und besetzt worden ist. Daß die Sowjetunion rasch zu einem der Hauptlieferanten für die Nazi-Kriegsmaschine wurde, und daß der sowjetische Premier und Außenminister Molotow sogar die westlichen Staaten davor warnte, sich Hitler in den Weg zu stellen. In seiner Rede vom 31. Oktober 1939 bezeichnete er es gar als „kriminell“, die Nazi-Ideologie zu bekämpfen. Tatsächlich war die Sowjetunion erst ab Mitte 1941 Kriegsgegner Deutschlands, davor aber war sie dessen größter, mächtigster und wichtigster Kollaborateur. So liest sich die Geschichte ganz anders. – Und das ging übrigens so weit, daß Moskau sogar Juden, ehemalige deutsche Kommunisten, die 1933 in die Sowjetunion geflohen waren, auslieferte, von denen viele daraufhin in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet wurden. Ihr Film arbeitet heraus, daß die Verbrechen nicht in erster Linie Folgen der Terrorherrschaft Stalins, sondern in der Ideologie des Kommunismus angelegt waren. Snore: Den ersten Massenmord des Zweiten Weltkrieges verübten nicht die Nazis – sondern die Kommunisten! Im Wald bei Katyn ermordeten sie schon im Frühjahr 1940 etwa 20.000 polnische Gefangene, sie versuchten praktisch die polnische Intelligenz auszurotten. Diese Morde gehören zu einem Kapitel, das vermutlich noch weniger im öffentlichen Bewußtsein des Westens verankert ist, als die Terrorherrschaft Stalins. Nämlich, in der Tat, daß der Kommunismus von Anfang an den Massenmord als Mittel legitimierte, ja forderte. Der Kommunismus verfolgte ein angeblich edles Ziel, nämlich die Gleichheit aller Menschen – aber was verstand er unter Gleichheit? Die reale physische Ausrottung aller, die nicht seiner Ideologie entsprachen! Die Massenmorde waren keine Entartungen, sondern Programm. Eine harmonische Gesellschaft durch grenzenlose Massaker zu erreichen, war keine Pervertierung der Idee – es war die Idee! Ihr Film zeigt Bundeskanzler Gerhard Schröder am 60. Jahrestag des Kriegsendes 2005 in Moskau die russischen Traditionsverbände grüßen. Bilder, die wir in der Tagesschau gesehen haben. Doch in Ihrem Film umweht sie, anders als im deutschen Fernsehen, der Hauch des Skandalösen. Snore: Wem Ihr damaliger Bundeskanzler damals die Ehre erwiesen hat, waren nicht die gefallenen Soldaten des Krieges, sondern die stalinistische Sowjetunion. Denn angetreten waren junge Leute in den historischen Uniformen des Systems, mit roten Fahnen, kommunistischen Bannern etc. Aber nur wer heute den historischen Uniformen und Fahnen der Nazis die Ehre erweist, der verhält sich offiziell skandalös. Im Europa der Gegenwart wird also mit zweierlei Maß gemessen, und es ist das Maß des Westens – dahinter verschwindet dessen Verantwortung und die historischen Erfahrungen der Osteuropäer. Und: Ausgerechnet ein deutscher Staatschef – ich erinnere an den Hitler-Stalin-Pakt – feierte jenes System, das uns Osteuropäer erobert und fünfzig Jahre besetzt gehalten und das Millionen deportiert oder ermordet hat. Es ist traurig, daß es diesbezüglich auch heute noch auf deutscher Seite so wenig Sensibilität gibt. Man kann daran ablesen, wie wenig man sich in Europa tatsächlich für Gerechtigkeit interessiert. Das ist der nächste Gesichtspunkt Ihres Films: Außer der UdSSR als Kollaborateur der Nationalsozialisten, der Westen als Kollaborateur der UdSSR. Snore: Wenn die UdSSR 1945 triumphierte und ihre Verbrechen tabuisieren konnte, dann weil der Westen sie tatkräftig unterstützt hat. Der Untergang der Sowjetunion ist bereits zwanzig Jahre her, die Archive sind längst geöffnet. Warum gibt es bis heute kaum ein Bewußtsein für den roten Holocaust, während der der Nazis perfekt im öffentlichen Bewußtsein verankert ist? Weil der Westen als Kollaborateur der UdSSR Mitschuld daran auf sich geladen hat. Nehmen Sie etwa die Nürnberger Prozesse: Dort tauchte etwa auf Initiative der UdSSR das Massaker von Katyn auf, die es den Deutschen in die Schuhe schieben wollte. Doch der Westen wußte, es waren nicht die Deutschen, deshalb wurde der Punkt dann doch nicht verhandelt. Aber statt den wahren Täter, die UdSSR, anzuklagen, schwieg man und machte sich damit zum Komplizen. Im Grunde verhält man sich im Westen bis heute so, denn Rußland ist ein Land, mit dem man gute Beziehungen wünscht. Sie nennen allerdings noch eine zweite Ursache: das Versagen der Intellektuellen. Snore: Viele der westlichen Intellektuellen damals und heute verstehen sich selbst als links. Die meisten neigten also dazu, die kommunistischen Verbrechen für nicht so wichtig zu nehmen oder zu verdrängen, zu entschuldigen oder gar zu leugnen. Damit waren und sind sie aber nicht weniger unmoralisch als die, denen sie selbst mit aller moralischen Schärfe gerne ihr Verdrängen vorwarfen beziehungsweise vorwerfen. Für den Film habe ich auch ein Interview mit André Brie, ein deutscher Sozialist im Europäischen Parlament, geführt. Er gab zu, daß Karl Marx’ Idee von der proletarischen Diktatur, die die Menschen nach ihrer sozialen Herkunft beurteilt und diskriminiert, falsch ist und daß moderne Sozialisten diese Idee nicht mehr verfolgen. Aber ich frage mich, was bleibt dann noch von Marx? Verstehen Sie? Es reicht nicht, zu sagen, hier irrte Marx. Wo ist die Entschuldigung, wo die Aufarbeitung, wo ist all das, was sie selbst immer von der Gesellschaft bezüglich des Nationalsozialismus verlangt haben? Wie ist diese Doppelmoral zu erklären? Snore: Die Linksintellektuellen argumentieren – das hatten wir schon –, daß der Kommunismus auf einer noblen Idee, dem Gedanken der Gleichheit, beruhe, der sich so ganz von den rassistischen Ideen Hitlers unterscheide. Und warum soll das nicht stimmen? Snore: Weil beide Systeme eine gemeinsame Idee haben: Um die neue Gesellschaft zu bauen, muß eine Gruppe unterdrückt, bekämpft und ausgerottet werden, weil sie parasitär sei und die geschichtliche Entwicklung hintertreibe. Das waren bei den Kommunisten Kulaken, Bürgerliche oder Reaktionäre, bei den Nazis die Juden. Die Unterschiede zwischen Nazis und Kommunisten sind eigentlich sehr klein und beziehen sich vor allem auf Äußerlichkeiten. Nationalsozialisten und Kommunisten betrachteten sich allerdings als krasse Antagonisten, als absolute Antipoden. Snore: Das sind sie nicht, sie sind vielmehr verfeindete Fraktionen der gleichen Idee. Das ist wie ein Religionskrieg: Auch Katholiken und Protestanten bekämpften sich einst besonders erbittert, gerade weil beide Christen waren. Ihr weltanschaulich argumentierender wechselseitiger Haß bemäntelte nur, daß sie eigentlich um die Vorherrschaft in der gleichen Sache kämpften. Schließlich warben Kommunisten und Nazis sogar um die gleichen Wählerschichten. Die Nazis gehören nicht, wie immer angenommen wird, zu den konservativen Kreisen, sondern vielmehr zu den sozialistischen Revolutionären. Die Nazis waren eine linke Bewegung? Snore: So ist es. Eine Argumentation, die in Deutschland nicht akzeptiert wird. Snore: Ich bin mir bewußt, wie seltsam diese Schußfolgerung in westlichen Ohren klingen mag. Aber Tatsache ist, daß Goebbels etwa sehr interessiert war am Sozialismus. Er schrieb in sein Tagebuch, daß er nach dem Endsieg in Rußland ein sozialistisches System etablieren wollte, und zwar nicht das „bolschewistsch-jüdische“, sondern einen „wahren“ Sozialismus. Heute dominieren im Westen viele Ex-Achtundsechziger, sie verlegen die Zeitungen, gestalten die TV-Programme und schreiben die Lehrbücher. Ich würde diese Leute gerne einmal mit den Überlebenden des kommunistischen Terrors zusammenbringen, die ich bei meinen Recherchen getroffen habe. Leider hat der Lauf der Geschichte dafür gesorgt, daß die Erinnerung von Millionen dieser Opfer weitgehend aus unserem historischen Bewußtsein verschwunden ist. All diesen Vergessenen soll „The Soviet Story“ eine Stimme geben. Edvins Snore: Der lettische Filmemacher, Jahrgang 1974, ist Autor der Dokumentation „The Soviet Story“. Mehr als zehn Jahre sammelte der studierte Politikwissenschaftler Material, bevor er seinen Film 2008 im Europäischen Parlament uraufführen konnte. „Soviet Story“ provozierte heftige Reaktionen, vor allem in Rußland wurde er in Politik und Medien als Machwerk verdammt, Aktivisten verbrannten vor der lettischen Botschaft in Moskau eine Puppe Snores (rechts: Titelbild der lettischen Tageszeitung Diena vom 21. Mai 2008). In anderen osteuropäischen Ländern waren die Reaktionen dagegen voll des Lobes. Auf Filmfestivals erhielt Snore mehrfach Auszeichnungen, deutsche Fernsehstationen zeigten dennoch bis heute kein Interesse an dem Film. Foto: Propaganda-Monument „Arbeiter und
Kolchosbäuerin“ (Höhe im Original: 20 Meter), geschaffen von Wera Muchina für
den sowjetischen Pavillon der Pariser Weltausstellung von 1937, plaziert auf
einem Berg von Leichen (Montage) als Symbol der Abermillionen Opfer des
Kommunismus: „Die Massaker waren keine Entartung, sondern Programm“
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