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Der englische Historiker Christopher Clark schreibt die Geschichte des 1947 aufgelösten Staates - und warum Preußen so mächtig wurde. Es war ein Zufallsprodukts. Und im Kern viel besser, als die Zeitgenossen und die Nachgeborenen dachten. Preußen hätte es eigentlich niemals geben dürfen. Ein Zufallsstaat, der mit Behinderungen zur Welt kam, eine kränkliche Kindheit durchlitt, in der Pubertät ständig von starken Nachbarn umgerannt und selbst im Erwachsenenalter seinen Geburtsfehlern fast erlegen wäre. Preußen war bei seiner Gründung nie als Staat erdacht worden. Heute würde man sagen, die Hohenzollern haben Portfolio-Management betrieben. Von der süddeutschen Heimat her hatten sie mit einem politischen Handel Brandenburg gekauft, dann durch Heiratspolitik Ansprüche auf weit entlegene Gebiete erworben und über Generationen die Angel ausgeworfen nach irgendwelchen fetten Brocken, egal wo sie lagen. Anfangs ging es nur um WachstumTerritoriale Geschlossenheit, ungestörter Binnenhandel oder militärischer Schutz der Außengrenzen – nichts davon spielte in den Gründungsjahren eine Rolle. Die Hohenzollern dachten und handelten wie Wall-Street-Manager: kaufen, was man kriegen kann, Hauptsache der Preis und die Rendite stimmen. Ob sich die Besitztümer untereinander zu einem Ganzen fügen, spielte erst einmal keine Rolle. Es ging um Wachstum, räumliche Ausdehnung, geschickte Anlage des Familienvermögens, um kritische Masse. Nach jedem Expansionsschub wachten sie erschreckt auf und sahen, dass die Verteidigung ihres Hab und Guts jetzt noch schwieriger geworden war, was nur die Begierde nach neuen Ländereien weckte. In eine Staatsgründung hineingerutscht waren die Hohenzollern, die sie selbst gar nicht beabsichtigt hatten. Anfangs fehlte ihnen alles, um ihr Portfolio vor dem Zugriff der Konkurrenten zu schützen: eine nennenswerte Wirtschaft, politischer Rückhalt bei den Ständen, eigene Steuern samt der Möglichkeit, sie einzutreiben, eine Regierung oder Zentralgewalt, eine Armee und Polizei, ja überhaupt Soldaten und Polizisten unter eigenem Kommando, vor allem aber Verkehrswege und eine geschlossene, verteidigbare Außengrenze. Die Investmentbanker aus Süddeutschland glaubten, sie könnten Ländereien sammeln wie Edelsteine, ohne dass sie ihnen von der Fahne gehen oder gestohlen werden. Ländereien sammeln ohne SystemWie konnte aus dieser Laienspielschar die größte Macht Europas werden, der bestgeführte, effizienteste und aggressivste Staat seiner Zeit? Wie wurde Preußen gleichzeitig zum Sinnbild von Toleranz und Militarismus, von Aufklärung und Massenvernichtung? Wie wuchs dieses lebensuntüchtige Gebilde zu solch überwältigender Macht heran, dass sich die Alliierten 1947 zu seiner formellen Auflösung genötigt sahen? Im Auflösungsgesetz vom 25. Februar nannten sie Preußen „Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“. Frieden und „Sicherheit der Völker“ sei nur möglich, wenn Preußen für alle Zeit verschwinde, im Unterschied zu Bayern, Württemberg oder Baden, die bleiben durften. Die Kriegsschuld lag in den Augen der Sieger vor allem bei Preußen; den anderen Ländern vergab man freiherzig. In einer neuen Biografie spürt der britische Historiker und Cambridge-Professor Christopher Clark, Jahrgang 1960, dem Mysterium Preußen nach. Seine Leistung besteht im Weglassen. Er will nicht psychologisieren und kein Gesamturteil abgeben. Wie preußisch der Nationalcharakter der Deutschen ist, ob Preußen unter dem Strich gut oder schlecht war, ist nicht sein Thema. Er will hin zu den Fakten. „Ich habe nicht den Anspruch, irgendwelche Lehren in Form von moralischen oder politischen Ratschlägen für heutige Generationen abzuleiten“, schreibt er im Vorwort. Sein Anspruch ist schlichter und kraftvoller: „Dieses Buch stellt den Versuch dar, die Kräfte zu verstehen, die Preußen geformt und zerstört haben.“ Preußen war die Folge einer chaotischen EntwicklungPreußen war nicht das Ergebnis eines planvollen Prozesses, so seine Hauptthese, sondern die Folge einer chaotischen Entwicklung. Preußens Protagonisten wussten selbst am wenigsten, wo es hingehen würde. Was aus unserer heutigen Sicht wie ein strenger, völlig durchgeplanter Staat erscheint, war laut Clark ein Kranker, der rein zufällig die Auswahl der Geschichte überlebte, als Monstrum daraus hervorkam und daran schließlich zugrunde ging. Realpolitik ist es, was Clark interessiert. Es geht um Starke und Schwache, nicht um Gute und Schlechte. Auf 773 Textseiten, ergänzt um 70 Seiten Fußnoten, schildert er minutiös und streng chronologisch die Ereignisse und Kraftverhältnisse aus 350 Jahren preußischer Geschichte. Der Reichtum an Details geht nicht auf Kosten des Überblicks, denn Clark schreibt im narrativ-essayistischen Stil angelsächsischer Historiker, der in Deutschland leider so selten ist. Woher kommt der Name Preußens?Im Vordergrund der Erzählung steht nicht die Begebenheit, sondern ihre Deutung. Jedes Kapitel, jeder Abschnitt hat eine klar durchdachte These, die mit Fakten belegt wird. Das Detail fügt sich in die Erzählung ein, es wird dadurch lesbar und verständlich. Zum Beispiel die Geschichte des Namens „Preußen“: Clarke deutet die Namenswahl als die Entscheidung eines Konglomerat-Besitzers, der nicht mehr weiß, wie er sein wild zusammengewürfeltes Imperium nennen soll. Kurz bevor er sich einen Kunstnamen ausdenkt, erhebt er den Namen des am weitesten abgelegenen Besitztums zum „Logo“ des Ganzen. Das ganze Imperium wird nach dem bescheidenen Herzogtum Preußen benannt, weil das zu diesem Zeitpunkt die innen- und außenpolitisch konfliktfreieste Lösung ist. Besonders in der Schilderung der Hitler- und Vorhitlerzeit führt Clarks faktenbetonter Ansatz zu einer Ehrenrettung Preußens, die deutschen Lesern nicht unbekannt, aber doch ungewohnt ist. Das beginnt mit einer Deutung von Militarismus als einer eigentlich erfreulichen Gegenbewegung zu unorganisierten und damit willkürlichen Bürgerwehren. Endlich Profis am WerkIm Konzept von Militär und Militärstaat erkennt Clark das staatliche Gewaltmonopol der Aufklärung. Keine marodierenden Freikorps ziehen raubend und brandschatzend durch die Gegend, sondern disziplinierte Profis, die dem Souverän aufs Wort gehorchen. Das sei ein Fortschritt gegenüber dem Gewaltchaos des Dreißigjährigen Kriegs, argumentiert Clark, schon deswegen sei der sprichwörtliche preußische Militarismus nicht automatisch schlecht. Ebenso wenig habe das preußische Militär Hitler zur Macht verholfen oder ihm willfährig gehorcht. Im Gegenteil: „Keine Einheit der deutschen Wehrmacht war im Widerstand so engagiert wie das Potsdamer Infanterieregiment 9, ein preußisches Traditionsregiment.“ Und besonders die preußischen Familien wie die Thaddens, Kleists und Bismarcks hätten den Widerstand gegen Hitler organisiert, den sie zu etwa zwei Dritteln stellten. Clark bestreitet nicht die Verstrickung Preußens in Gräueltaten von SS, Gestapo und Wehrmacht. „Doch war preußische Abstammung keineswegs eine Voraussetzung für den begeisterten Einsatz für die nationalsozialistische Sache.“ Andere Deutsche standen den Preußen in nichts nach. Dieses Buch ist ein ruhiges, langes Meisterwerk. Es missioniert nicht, es spitzt nicht zu, es klärt nur auf. Clark bringt seine Schlussfolgerung nicht zu Papier, aber sie drängt sich dem Leser auf: Die Abschaffung Preußens als politische Einheit 1947 war historisch unbegründet. Sie folgte allein der Logik des Kriegsendes und der Aufteilung Europas in zwei Machtblöcke. Dabei stand Preußen im Weg – wie so oft zuvor in seiner Geschichte. Christopher Clark, „Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947“, DVA, 900 Seiten, 39,95 Euro.
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