Der polnische Korridor
Vorbemerkung
Der polnischer Korridor, auch
Danziger Korridor oder Weichselkorridor genannt, war derjenige Landstreifen
zwischen Pommern und der unteren Weichsel, den das Deutsche Reich gemäß dem
Versailler Vertrag von 1919 an Polen abtreten musste. Der Streifen war zwischen
30 und 90 Kilometer breit, umfasste den größten Teil Westpreußens sowie
Teile Pommerns und trennte die
Freie Stadt Danzig und
Ostpreußen vom Deutschen Reich
ab. Polen, das mit dem Korridor einen Zugang zur Ostsee erhielt, wurde im
Versailler Vertrag verpflichtet, den ungehinderten Personen-, Waren-, Post- und
Telefonverkehr durch den Korridor zu gewährleisten. Zwischen Deutschland und
Polen gab es jedoch erhebliche Konflikte um den Korridor, da Polen seinen
vertraglichen Verpflichtungen nicht immer nachkam oder nachkommen wollte.
Das Eisenbahnunglück von Preußisch-Stargard
von Siegmund Kindel
Am Morgen des 1. Mai 1925 machte die Nachricht von einem
schrecklichen Bahnunglück die Runde, das sich kurz vor Mitternacht bei Preußisch
Stargard im Korridor ereignet hatte. Die Passagiere waren fast alle Deutsche,
viele der Opfer waren Ostpreußen.
Ostpreußen war seit 1919 durch den Korridor vom übrigen Reich
abgeschnitten. Wer nach Berlin fuhr, mußte nun durch polnisches Gebiet. Auf dem
Marienburger Bahnhof befand sich die deutsche Zollstelle. Dann verlief die
Bahnstrecke ein kurzes Stück, rund 16 Kilometer, über Danziger Gebiet, bevor sie
über die Dirschauer Weichselbrücke in den polnischen Korridor ging. Schon die
Danziger Zoll- und Bahnbeamten rekrutierten sich zwar aus Danziger
Staatsangehörigen, die Zollverwaltung jedoch unterstand bereits polnischer
Staatshoheit. Deren Kontrolleure waren Polen.
In Dirschau wurden die Züge plombiert. Reisende aus der
damaligen Zeit erzählen, daß bisweilen auch die Vorhänge zugezogen wurden. Rund
hundert Kilometer ging es durch den Korridor in südwestlicher Richtung, bevor
die Bahnlinie kurz hinter Konitz wieder Reichsgebiet erreichte. Über
Schneidemühl und Landsberg/ Warthe ging es dann Berlin entgegen.
Erstmals werden hier polnische Dokumente veröffentlicht, die
auch einen Einblick von der von gegenseitigem Mißtrauen geprägten Atmosphäre der
damaligen Zeit geben.
Der erste Bericht über das Unglück stammt vom 1. Mai 1925 vom
polnischen Polizeikommissar Grzybek. Er berichtete der Leitung der politischen
Polizei in Thorn von den furchtbaren Geschehnissen: "In der Nacht vom 30. April
zum 1. Mai 1925 um 23.40 Uhr ist zwischen den Stationen Swaroschin und Stargard
an der 403/4-Km.-Bezeichnung der deutsche Transitzug von Insterburg nach Berlin
entgleist. Es haben dabei 25 Personen den Tod gefunden. In dieser Zahl enthalten
ist ein polnischer Zollbeamter aus Konitz. Schwerverwundet wurden 18 Personen.
Die Leichtverwundeten wurden mit dem nächsten Zug nach Deutschland gebracht, die
Schwerverletzten mit einem Rettungszug nach Dirschau. Die Toten kamen in die
Leichenhalle nach Stargard. Der Zug hatte neun Personenwaggons, die ersten drei
wurden total zerstört und sind von dem acht Meter hohen Damm gefallen. Die
Lokomotive wurde schwer beschädigt. Staatspolizei und Ärzte kamen kurz nach dem
Unfall an die Stelle der Katastrophe. Der Untersuchungsbericht wird in Dirschau
mit Nachdruck bearbeitet. Vorläufig wurde die Unfallursache noch nicht
festgestellt. Ein verbrecherisches Attentat kann jedoch nicht ausgeschlossen
werden. Die (polnische) Eisenbahndirektion in Danzig wurde entsprechend
benachrichtigt, und ihre Vertreter befinden sich an der Katastrophenstelle. Von
diesem Vorfall bitte das Bezirksamt der Politischen Polizei, das
Bezirksuntersuchungsamt und auf Antrag des Landrats auch den Woiwoden
benachrichtigen. Die Toten und Verwundeten sind wahrscheinlich deutsche
Staatsbürger."
Wenig später, in seinem nächsten Telefonat, steht für
Polizeikommissar Grzybek die Unfallursache bereits fest:
"Im Nachgang zur vorherigen Nachricht … teile ich mit, daß
die Katastrophenursache ein verbrecherisches Attentat war und von mehreren
Verbrechern durchgeführt wurde. Die Verbrecher lösten die Schienen durch
Abdrehen und Entfernen von vier Schrauben. Die entfernten Schrauben wurden von
ihnen mitgenommen und drei von ihnen in den nahegelegenen Wald geworfen. Die
Kriminalpolizei in Danzig teilte mit, daß ein Polizeihund geschickt werde, um
die Spurensuche aufzunehmen."
Ein polnischer Beamter namens Stejka, der vor Ort die
Untersuchungen aufgenommen hat, präzisiert: "Die Ursache des Unglücks des
Transitzuges zwei Kilometer vor Stargard ist Diversion. Die bisherige
Untersuchung zeigte eine Schraubenlösung. Einige Schrauben blieben auf der
Stelle liegen, einige wurden in den nahen Wald geworfen. Es wurden zwei Spuren
festgestellt und gesichert, solange bis der Polizeihund mit dem Auto aus Danzig
eintrifft. Ein D-Zug, der 25 Minuten früher die Unglücksstelle passierte, ist
glücklich durchgefahren. An Ort und Stelle sind die Eisenbahnbehörden, das
Gericht und die Staatsanwaltschaft sowie die Landräte von Stargard und Dirschau,
die Kommissare Grzybek und Pawlowski sowie die Kriminalpolizei aus Dirschau. Es
wurde eine Durchstreifung der Umgebung angeordnet. Agenten wurden zur
Untersuchung nach Danzig gesandt. … Gerade eben wurde noch die Kapsel einer
Stielhandgranate gefunden, die vor dem Abfeuern oben abgeschraubt wird. Agenten
sind aus Konitz gekommen. Ich bleibe hier an der Unfallstelle."
Der Stargarder Bahndirektor Jadykiewicz berichtet: "Infolge
des verbrecherischen Anschlags durch das Auseinanderdrehen der Schienen ist die
Lokomotive "Braukard" mit fünf Personenwaggons, unter ihnen auch der Schlafwagen
des Transitzuges 907 zwischen den Stationen Swaroschin und Pr. Stargard engleist.
… Die schwer- wie die leichtverwundeten Personen wurden in die Krankenhäuser
nach Stargard und Dirschau gebracht. Die Ärzte, die Rettungswagen, die Vertreter
des Landratsamtes, des Gerichts und der Staatspolizei sind auf der
Katatrophenstelle anwesend. Die Namen der Toten werden laufend festgestellt. Mit
Hilfe des Werkzeugwagens und der Handwerker aus Dirschau und Konitz werden die
Trümmer beseitigt. Der Eisenbahnverkehr geht von der Station Swaroschin
(zwischen Pr. Stargard und Dirschau – Anm. d. Red.) nach Stargard nur im
Einbahnverkehr."
Die politische Polizei in Thorn befahl daraufhin der
Kreiskommandantur der polnischen Staatspolizei in Stargard telefonisch, das
Gelände zu erkunden und unter Aufsicht zu halten. In einem Bericht hieß es, die
Bahnstrecke sei noch in der Nacht um 2 Uhr vom Bahnwärter Michael Schröder aus
dem nahegelegenen Spengawsken kontrolliert worden. Der habe nichts festgestellt
und sei im übrigen ein "bewährter und gewissenhafter Angestellter".
Erst zehn Tage später, am 11. Mai, wird die vollständige
Liste der Opfer veröffentlicht. Die Zahl der Getöteten hat sich inzwischen auf
29 Personen erhöht. Vier weitere Personen waren seitdem im Dirschauer
Krankenhaus gestorben. Es handelte sich um den Gutsbesitzer Aloys Scharfenort
aus Braunsberg und seine Frau Annemarie, den Elbinger Magistratsbeamten Julius
Maas, den Tilsiter Oberpostsekretär Artur Malwitz, den Kaufmann Artur Levin aus
Saalfeld, Kreis Mohrungen, den Lehrling Herbert Brettschneider aus Elbing,
Elfriede Radusch aus Elbing, Ehefrau und Kind und Kindermädchen des Dr. Gerach
aus Osterode, Ruth Schumacher-Keilich aus Potsdam, den Reichswehr-Soldaten
Lisaus mit Frau und Kind, den Königsberger Bibliotheksrat Theodor Krüger, den
Marienburger Kaufmann Paul Helbing, Erhard Klein aus Elbing, Herbert Lau aus
Heiligenbeil, Max Wollermann, Beamter aus Danzig, Emma Fischer, Meta Wichmann,
Dora Goldstein, Eva Thiel, eine Frau Dahlström und schließlich den polnischen
Zollbeamten aus Konitz, Jan Stiefelbein. Im Dirschauer Krankenhaus verstarben
Professor Hensel aus Elbing, Dr. Neumann aus Berlin, der Fabrikbesitzer Höftmann
aus Wystruc und der Kaufmann Begor Mojsche aus Riga.
Am 24. Mai schließlich wird durch die polnische
Polizeibehörde in Danzig ein relativ kurzer, abschließender Untersuchungsbericht
vorgelegt. Er lautet:
"Die durchgeführte Untersuchung im Raum der Freien Stadt
Danzig in vielen einflußreichen Wirkungskreisen ergaben bezüglich des Attentats
auf die Eisenbahngleise bei Stargard keinerlei Anzeichen und Verdachtsgründe,
die auf die Spuren des Verbrechens führen konnten.
Im Umlauf befinden sich viele Versionen und Gerüchte, die
aber keine Bestätigung gefunden haben. Unter den Danziger Eisenbahnern und den
Danziger Kommunisten wird vermutet, daß dieser Anschlag von den deutschen
Nationalisten verursacht wurde. Dieses Gerücht hat jedoch keine Bestätigung
gefunden. Gleichzeitig wird von einer Wiederholung eines ähnlichen Anschlages im
Korridor gemunkelt, um die Initiative zur Abschaffung des Korridors zu geben.
Nach der Wahl Hindenburgs zum Präsidenten wurde die genannte Propaganda von den
Nationalisten verstärkt. Die deutschen Nationalisten sind sicher, daß die
Konspiration ihrer Attentäter nicht ans Tageslicht kommt und wollen den Anschlag
auf die sowjetischen und polnischen Kommunisten abwälzen.
Die Danziger Behörden verhalten sich bezüglich der
Katastrophe zurückhaltend und betonen: Sollten das die Kommunisten verursacht
haben, dann muß die polnische Regierung radikale Schritte unternehmen, daß sich
solche Unfälle in Zukunft nicht wiederholen. Zusammen mit anderen Staaten (so
die Danziger Behörden) sollten Schritte unternommen werden, um die
kommunistische Diversion und ihren Terror zu bekämpfen. In der Freien Stadt
Danzig konnte man allerdings auch keine konkreten Angaben erhalten, die auf die
Spuren der Attentäter führen konnten."
Soweit der Untersuchungsbericht. Es ist deutlich, daß man
polnischerseits offensichtlich nicht ergebnisoffen ermittelt hat. Der
Untersuchungsbericht spricht zwar davon, daß man Spuren auf die Attentäter nicht
hat finden können. Dennoch scheint es dem Gutachter merkwürdigerweise vollkommen
außer jeder Diskussion, daß es sich nur um eine "Konspiration" deutscher
Nationalisten handeln könne, die alles täten, damit "ihre Attentäter nicht ans
Tageslicht" kämen. Spuren, die zu polnischen oder sowjetischen Kommunisten
hätten führen können, wurden dagegen offensichtlich von der polnischen Polizei
nicht weiter verfolgt. Die Behauptung, "deutsche Nationalisten" hätten einen
erfahrungsgemäß ausschließlich mit Deutschen besetzten Zug mit den absehbaren
Folgen in die Luft gesprengt, erscheint etwas unseriös. Ein Interesse, die
Verbindungen zwischen Ostpreußen und dem Reich zu sabotieren, hätte eine solche
Gruppe zweifellos nicht gehabt. Die wahre Ursache des tragischen Unglücks konnte
offenbar nie aufgeklärt werden.
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