Die Wilhelm
Gustloff als Lazarettschiff 1939 in Danzig
Stählerne Sarkophage auf dem Ostseegrund von
Thorsten Hinz
Der Beginn der russischen Großoffensive am 12.
Januar 1945 und die Aussichtslosigkeit der militärischen Lage konnten Erich
Koch, den Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar von Ostpreußen, nicht
umstimmen. Zwar hatte Hitler die „Wolfsschanze“ bei
Rastenburg schon am 20.
November 1944 verlassen, und zwei Tage später war vorsorglich ein Sprengkalender
für die Bunker erstellt worden – ein Indiz, daß man sich in der Führungsspitze
über das, was Ostpreußen bevorstand, keine Illusionen machte –, doch den
Menschen blieb die Flucht verboten.
Nichts war vorbereitet für die Evakuierung der
Alten- und Kinderheime, der Krankenhäuser mit den Frischoperierten. Manche
Situationen waren grotesk. Der Militärarzt Hans Graf Lehndorff berichtet, daß er
am 19. Januar in Insterburg von einer Frau nach einer Speditionsfirma gefragt
worden sei, die ihre zentnerschweren antiken Möbel abtransportieren sollte. Für
eine Luftbrücke ins Reich standen keine Flugzeuge zur Verfügung, auch an
Kraftfahrzeugen und Benzin fehlte es. Auf den Straßen setzten sich lange Trecks
in Bewegung, die sich mit Militärtransporten verkeilten.
Die Züge waren überfüllt, oft waren die
Bahnlinien unterbrochen. Es herrschte bittere Kälte. Ziel der Flüchtenden war
es, über die Weichsel zu gelangen, wo die Front hoffentlich zum Stehen kam. Eine
irrige Hoffnung. Die deutsche Mittelfront wurde in kürzester Zeit zerrissen.
Danach richtete die Rote Armee wuchtige Schläge nach Norden in Richtung
Elbing.
Am 22. Januar wurde der Zugverkehr eingestellt, vier Tage später war Ostpreußen
gänzlich abgeschnitten.
Die Menschen drängten sich auf einen schmalen
Landstreifen zusammen, der Königsberg umschloß und sich ans Frische Haff
anlehnte. Gehalten wurde auch der Hafen
Pillau auf der anderen Seite des Haffs.
Von dort fuhren Schiffe ins Reich und nach Dänemark. Der einzige Weg zum Hafen
führte über das gefrorene Haff. Das Eis hielt der enormen Belastung nicht immer
stand. Pferdewagen brachen ein und versanken samt Großeltern und Kleinkindern
vor den Augen der Angehörigen. Tiefflieger nahmen die Trecks unter Beschuß,
zusätzlich wurde das Eis bombardiert – eine militärisch völlig sinnlose
Grausamkeit. Chaos gab es beim Besteigen der Schiffe. Viele wurden im Gedränge
vom Kai ins eiskalte Wasser gestoßen, mit Gepäck und Kinderwagen.
Rettungsaktion ohne Beispiel
Auch für den Seetransport gab es keine Planung,
er mußte improvisiert werden. Am 21. Januar gab Großadmiral Dönitz unter dem
Kennwort „Operation Hannibal“ den Befehl, die Unterseebootsdivisionen in der
Danziger Bucht nach Westen zu verlegen. Soweit der Schiffsraum nicht von Militär
belegt wurde, sollte Zivilbevölkerung an Bord genommen werden.
Der Befehl entwickelte eine Eigendynamik, eine
Rettungsaktion ohne Beispiel begann. Für den Abtransport der Flüchtlinge wurde
vom großen Fahrgastschiff bis zum Walfänger jeder erreichbare Schiffsraum
genutzt. Allein am 25. und 26. Januar wurden aus
Pillau 17.000 Menschen
abtransportiert. Zielhäfen waren Swinemünde, Saßnitz, Eckernförde und Kiel. Auch
in Gotenhafen (Gdingen/Gdynia),
Danzig, Stolpmünde, Kolberg und auf der
Halbinsel Hela warteten zahllose Menschen auf ihre Rettung mit dem Schiff.
Doch selbst für die Glücklichen, die sich einen
Schiffsplatz erkämpft hatten, war die Erleichterung nur vorläufig. Stets fuhr
die Angst mit. Immer wieder liest man von der Totenstille an Bord, als hätten
die Passagiere befürchtet, der kleinste Laut würde das Verderben anlocken. Einen
Geleitschutz gegen U-Boote durch Flugzeuge oder Schiffe gab es nicht. Am 30.
Januar wurde das Urlauberschiff Wilhelm Gustloffdurch drei Torpedos versenkt, die das U-Boot „S-13“ unter Kommandant
Marinesko abgefeuert hatte. Mehr als 5.000 Menschen starben.
Am 9. Februar versenkte Marinesko die Steuben,
die von Pillau in See gestochen war, ein 1922 auf der Stettiner Vulkan-Werft
erbautes Passagierschiff der Luxusklasse, das in Friedenszeiten nach New York
fuhr. Von den 5.000 Menschen an Bord wurden nur 600 gerettet. Am 16. April wurde
auf der Höhe von Stolpmünde das U-Boot „L-3“ unter Kommandant Konowalow der
„Goya“ zum Verhängnis. 7.000 Menschen, vielleicht noch mehr, kamen ums Leben.
Der Untergang der Goya ist das größte Schiffsunglück in der
Menschheitsgeschichte. Überlebende der Katastrophen berichten von einem
gewaltigen Rauschen, verursacht vom Wasser, das durch die von den Torpedos
gerissenen Lecks einströmte. Andere Schiffe liefen auf Minen oder wurden in den
Häfen bombardiert.
Ein Ostseehafen nach dem anderen ging verloren:
Stolpmünde am 8. März, Kolberg am 18. März,
Danzig am 27. und Gotenhafen am 28.
März. Die letzte Ausschiffung von der Halbinsel Hela fand am 6. Mai statt.
Tausende Zivilisten und Soldaten blieben zurück, die zur Zwangsarbeit in die
Sowjetunion verschleppt wurden. Viele starben dort. Noch zwei Wochen nach der
Kapitulation kamen in Dänemark Flüchtlingsschiffe an. Aber auch die Zielhäfen
bargen Gefahren. Am 12. März 1945 wurde das mit Flüchtlingen überfüllte Swinemünde aus der Luft bombardiert. 23.000 Menschen starben.
Besatzungen leisteten Übermenschliches
Die mutige Tat der deutschen Kriegs- und
Handelsmarine, die Menschenleben in siebenstelliger Zahl rettete, läßt die
Lemuren der BRD-Geschichtspolitik nicht ruhen, wie denn auch! In Wahrheit hätten
die Militärtransporte stets Priorität gehabt, viel mehr hätten gerettet werden
können usw. usf. Ein unlogisches Argument, denn der Abtransport der Zivilisten
ließ sich nur unter militärischem Schutz aufrechterhalten. Die
Schiffsbesatzungen – Offiziere, Matrosen, Zivilangestellte – leisteten
Übermenschliches. Jede Fahrt war für sie ein tödliches Risiko, zumal die
Sowjetunion nicht einmal deutsche Lazarettschiffe anerkannte, sondern als
legitime militärische Ziele behandelte.
Heinz Schön, selber ein Gustloff-Überlebender, hat ihnen unter anderem mit
dem Standardwerk „Die Gustloff-Katastrophe“ ein würdiges Denkmal gesetzt. Günter
Grass, nachdem er 35 Jahre lang fast nur Belanglosigkeiten verfaßt hatte,
löste 2002 mit der Novelle „Krebsgang“, die sachlich von Schön inspiriert
ist, eine breite Diskussion und Erschütterung aus. Künstlerisch war das Werk
wenig bedeutend, auch sprachlich blieb es hinter Schön zurück.
2003 legte die Mittdreißigerin Tanja Dückers, ein
flüchtiger Star der sogenannten „Berlin-Literatur“, den Roman „Himmelskörper“
vor, der gleichfalls von der Gustloff-Katastrophe handelt. Er ist ein Beleg
dafür, daß das Erinnerungsband zwischen den Generationen in Deutschland
zerrissen ist. In einem Interview kritisierte sie, Grass sehe „die Deutschen,
die mit der Gustloff untergegangen sind, mehr als Opfer (…) Ich dagegen habe die
nötige historische Distanz und sehe die historischen Fakten. (…) Ich glaube, in
Deutschland versucht man, sich von der Vergangenheit zu befreien und sie
gleichzeitig herunterzuspielen.“
In seinem äußersten Osten, wo Pommern am
schönsten ist, steht der Leuchtturm von Stilo. Der polnische Leuchtturmwärter
und seine Frau sind freundliche Leute. Das Amt wird in der Familie vererbt – das
war auch zu deutscher Zeit so. Nach einer Unterhaltung über Landschaft, Krieg
und Familiengeschichte überlassen sie dem Besucher sogar ihr Fernglas. Von oben
sieht man Sand, Wald, im Westen den Leba-See und die berühmten Wanderdünen. Wenn
man das Glas nach Norden auf die Ostsee schwenkt, findet man irgendwo in der
Ferne der Punkt,
wo am 30. Januar 1945 die Wilhelm
Gustloffsank.
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