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Die vergessenen Opfer Wenn zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des deutsch-polnischen Krieges in Zeitungen und Zeitschriften, bei Guido Knopp im ZDF und in Schriften der politischen Bildung Beiträge erscheinen, dann wird man alles finden über deutsche Ränke und Versäumnisse, Blut- und Raubtaten, Kriegslust und Vernichtungsgier, aber man wird voraussichtlich mit keinem Wort der Verfolgung der Volksdeutschen in Polen gedenken. Obwohl die an ihnen begangenen Grausamkeiten gut dokumentiert sind, fehlt bis heute eine zusammenfassende Publikation. Dabei erschütterten die Vorkommnisse seinerzeit die gesamte deutsche Öffentlichkeit. Man erfuhr von ihnen im Herbst 1939 durch heimkehrende Soldaten, von denen viele Augenzeugen gewesen waren, wie man überall in Polen die ermordeten Volksdeutschen aus Wäldern und Straßengräben geborgen hatte. Sie hatten die Berichte der Angehörigen anhören müssen, die den Massakern entkommen konnten und nun ihre verschleppten Väter und Brüder suchten. Heute ist davon in der deutschen Öffentlichkeit nicht
mehr die Rede. In keinem Schulbuch steht etwas von der Verfolgung der Deutschen
in Polen, keine „History“-Sendung unterrichtet darüber, in keiner offiziellen Feierstunde
wird ihrer gedacht. Das nach dem Ersten Weltkrieg wieder gegründete Polen war von Anfang an ein Vielvölkerstaat. Die erste amtliche Volkszählung 1921 ergab etwa 69 Prozent Polen. Etwa 19 Prozent waren Ukrainer, fast acht Prozent Juden (die in Polen als Volksgruppe galten), und etwa 3,3 bis 3,9 Prozent – hier stritten sich deutsche Volksgruppe und polnische Regierung – waren Deutsche, das waren etwa 1,06 bis 1,4 Millionen Menschen. Ende 1918 hatten sogar ausweislich der letzten Vorkriegs-Volkszählung noch 2,4 Millionen Deutsche in den Gebieten gelebt, die 1919 zu Polen kommen sollten. Dieser verhältnismäßig große Prozentsatz war kein Wunder, gehörten doch weite Teile früher zu Deutschland wie etwa Posen, Westpreußen und das östliche Oberschlesien. Es gelang der polnischen Mehrheit, im Laufe der Jahre mindestens etwa 800.000 Deutsche aus Polen hinauszudrängen („entdeutschen“ nannten die polnischen Wortführer die dabei angewendeten Methoden). Aber auch über eine halbe Million Juden wichen vor polnischen Diskriminierungen aus und emigrierten. Obwohl sich Polen gegenüber der Versailler Friedenskonferenz verpflichtet hatte, seine nationalen Minderheiten zu schützen und ihnen kulturelle Autonomie zu gewähren, verfolgten die polnischen Regierungen eine Minderheitenpolitik nach der Devise, Polen müsse „so rein werden wie ein Glas Wasser“ („Polska musi byc czysta jak szklanka wody!“). So wurden Minderheitenschulen geschlossen, Geschäftsleute boykottiert, Kirchengemeinden, sofern sie nicht römisch-katholisch waren (die der deutschen Volksgruppe waren ganz überwiegend evangelisch), schikaniert. Als dann die politische Lage zwischen Deutschland und Polen immer angespannter wurde, wuchs der polnische Druck auf die deutsche Volksgruppe immer mehr. Im Sommer 1939 flohen die Deutschen in Massen aus ihrer Heimat nach Deutschland oder in die Freie Stadt Danzig; dort befanden sich Ende August Flüchtlingslager mit etwa 77.000 Volksdeutschen aus Polen. Auch schon vor Ausbruch der Feindseligkeiten gab es Opfer unter den deutschen Zivilisten. Die Zahl ist nicht mehr festzustellen. In der Literatur findet man sowohl die Feststellung, dass elf Deutsche getötet worden seien, als auch die Zahl 60. Als am 1. September 1939 das Deutsche Reich die Feindseligkeiten eröffnete, brach eine Welle der Verfolgung gegen die bereits vorher registrierten Volksdeutschen und ihre Einrichtungen los. Allgemein bekannt ist der „Bromberger Blutsonntag“ drei Tage nach Kriegsbeginn, doch wurden überall, vor allem in den westlichen polnischen Provinzen, die Deutschen zusammengetrieben und in langen Marschkolonnen – insgesamt waren es 41 – mit jeweils Hunderten von Frauen, Männern und auch Kindern – nach Osten getrieben, von Soldaten oder von bewaffneten Mitgliedern polnischer Milizen. Wer nicht weiterkonnte, wurde erschossen. Auch fiel immer wieder der Pöbel über die wehrlosen deutschen Zivilisten her, prügelte auf sie ein und schlug manche tot. Zeitzeugen berichteten, dass sich vor allem Soldaten der vor der Wehrmacht zurückflutenden polnischen Truppenteile durch Grausamkeiten hervortaten, Soldaten, die die Volksdeutschen dafür verantwortlich machten, dass entgegen der polnischen Siegesgewißheit – man hatte ihnen vorgegaukelt, sie würden schon in wenigen Tagen siegreich in Berlin einmarschieren – nun überall die polnischen Einheiten geschlagen wurden. Die deutsche politische Führung behauptete nach dem Sieg über Polen, es seien 58.000 Volksdeutsche von Polen ermordet worden. Diese Zahl war weit übertrieben und sollte wohl dazu dienen, das überaus harte deutsche Vorgehen in Polen zu begründen. Bezeichnenderweise gab es keine amtliche Erhebung der Opferzahlen. Das überließ man der von Volksdeutschen nach Einstellung der Kampfhandlungen gegründeten „Zentrale für die Gräber der ermordeten Volksdeutschen in den eingegliederten Ostgebieten“ in Posen. Ihr Leiter und ihre treibende Kraft wurde der volksdeutsche Historiker Dr. Kurt Lück. Er sah es als seine Hauptaufgabe an, die Schicksale der vielen immer noch vermißten Volksdeutschen zu klären. Im Laufe der ersten Nachkriegsmonate stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen umgebracht worden waren. Die Gräberzentrale wurde, bezeichnenderweise bevor sie ihre Arbeit abgeschlossen hatte, im Mai 1942 geschlossen. Bis dahin konnte man 3.453 getötete Volksdeutsche und 2.339 Vermisste feststellen, von denen keiner wieder aufgetaucht war. Ihre Personalien und die Umstände ihrer Ermordung – soweit feststellbar – waren in einer umfangreichen Kartei festgehalten. Dr. Lück wurde eingezogen und fiel bald darauf an der Front. Die Unterlagen fielen bei Kriegsende in polnische Hand. Der Historiker Altman vom polnischen West-Institut sorgte dafür, dass eine Kopie der Kartei 1959 dem Bundesarchiv überlassen wurde. Die gesamten Originalunterlagen, auch jene über die damals noch nicht aufgeklärten Fälle, befinden sich heute im Staatsarchiv Posen (Archivum Panstwowe w Poznaniu) und können eingesehen werden. Nach Auskunft einer Gewährsperson hat bis heute aber kein deutscher Historiker danach gefragt. Bis heute gibt es keine Abschlusszahlen der Verluste der deutschen Volksgruppe in Polen. Die seinerzeit von der „Gräberkartei“ festgestellte Zahl von 5.791 Toten und Vermißten dürfte die untere Grenze darstellen; zusammen mit den erwähnten Fällen in den ersten acht Monaten des Jahres 1939 kommt man auf etwas über 5.800 getötete deutsche Zivilisten in Polen im Jahre 1939. Auf alle Fälle widerlegt die Tatsache, dass Tausende von Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen am Beginn des Krieges umgebracht wurden, die Behauptung maßgebender polnischer Persönlichkeiten wie etwa des zweimaligen Außenministers Wladyslaw Bartoszewski, die Polen seien nie Täter, sondern immer nur Opfer gewesen. Akten liegen seit 1959 unveröffentlicht im Bundesarchiv Die Unterlagen der „Zentrale für die Gräber der ermordeten Volksdeutschen in den eingegliederten Ostgebieten“, die ihre Arbeit nicht abschließen konnte und daher nur vorläufige Verlustzahlen feststellte, befinden sich heute im Staatsarchiv Posen. Die von der „Zentrale“ erarbeitete Kartei wurde 1959 in einer Kopie dem Bundesarchiv überlassen. Auf Initiative der Landsmannschaft Westpreußen und ihrer Zeitung „Der Westpreuße“ wurden in den 50er Jahren Erlebnisberichte von Zeitzeugen gesammelt, die sich heute im Bundesarchiv befinden. Eine abschließende Untersuchung wurde zwar immer wieder angekündigt, fehlt aber bis heute. August Müller, der ehemalige Oberschulrat des Regierungsbezirks
Bromberg, wurde mit der weiteren Auswertung der in Deutschland vorhandenen Unterlagen
betraut. Er konnte noch viele weitere Zeitzeugen befragen, bis er 1989 verstarb.
Müllers immer noch nicht aufgearbeiteter Nachlass befindet sich zur Zeit in der
Dokumentensammlung des Herder-Institutes an der Universität Gießen. Nach Auskunft
des Vorsitzenden der „Historischen Kommission für das Deutschtum in Polen“ (so der
derzeitige Name), Dr. Markus Krzoska, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für osteuropäische Geschichte der Universität Gießen, stehen die Akten der Öffentlichkeit
grundsätzlich zur Verfügung, doch behalte er sich vor, wie er auf Anfrage mitteilte,
die Bestände für bestimmte Personen zu sperren. Auf die Frage nach den Gründen und
Kriterien antwortete er, diese Unterlagen dürften nicht „für rechtsradikale Zwecke
mißbraucht“ werden. Die Frage, wie „rechtsradikale Zwecke“ definiert würden und
welche Richtlinien einer eventuellen Sperrung zugrunde liegen, beantwortete er ausweichend.
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