Rosenberg
/ Westpreußen
Dienstantritt in Ostpreußen
1921 Vorbemerkung
Am
30. Januar 1933, ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg
Adolf Hitler zum Reichskanzler – der Weg in Diktatur und Krieg und Völkermord
war frei. Man hat viele Gründe für
das Scheitern
der Weimarer Republik genannt. Oft werden der
Versailler Vertrag
und die Wirtschaftskrise samt der hohen Arbeitslosigkeit dafür verantwortlich
gemacht. Doch entscheidend war etwas anderes. Zu viele
Deutsche wollten keine Demokratie; vor allem die konservativen Eliten verfolgten
den neuen Staat mit unerbittlichem Hass. Die Erinnerungen
Ferdinand Friedensburgs an seinen „Dienstantritt in Ostpreußen“ 1921, die wir
hier leicht gekürzt abdrucken, berichten davon – ein eindrucksvolles Dokument,
nicht ohne bitter-groteske Komik.
Dienstantritt in Ostpreußen 1921
Herr v.
Puttkamer gedenkt zu verreisen
Oder: Warum die
Republik von Weimar keine Chance hatte
Von Ferdinand
Friedensburg (*)
Am 12. Januar 1921 traf ich abends um neun Uhr mit einem Personenzug auf der
Nebenbahnstrecke Marienburg–Deutsch-Eylau in Rosenberg [heute: Susz] ein. Der
offene, verschneite, von einigen Gaslampen spärlich erleuchtete Bahnsteig schien
leer, doch löste sich aus dem Dunkel des Stationsgebäudes eine umfangreiche
Gestalt, musterte die Handvoll Ausgestiegener und ging mir mit raschen Schritten
entgegen. In korrekter Haltung des alten Unteroffiziers meldete sich der Fremde:
„Kreisobersekretär Oehlschläger zum Empfang des Herrn Landrats!“ Ich verbarg
meine Überraschung, daß er allein kam, schüttelte ihm die Hand und ging mit ihm
durch die Sperre auf die halbdunkle Bahnhofsstraße, auf der einsam ein Mietauto
stand, wie sich herausstellte, das einzige Auto des Ortes. „Nanu“, fragte ich
nun doch, „wo ist denn das Auto der Kreisverwaltung?“ – „Das ist nicht
verfügbar“, erwiderte Oehlschläger mit unverkennbarer Verlegenheit. Meine Frage
„Warum denn nicht?“ erhielt den ominösen Bescheid: „Herr Landrat werden ja
morgen früh sehen!“
Ich wollte mich
mit dem mir noch fremden Untergebenen, noch dazu auf der Straße, nicht in lange
Erörterungen einlassen. Wir bestiegen das holperige Gefährt und fuhren zum Hotel
Lehmann, dem einzigen Gasthof der kleinen Kreisstadt, wo ich vorläufig Quartier
nehmen sollte. Schon am Eingang scholl mir Geschrei entgegen, und es begegneten
mir kräftige rotwangige Leute, die sich lebhaft unterhielten. Durch den offenen
Saaleingang sah man eine sich auflösende Versammlung. Zwischen den erregt
miteinander weiterdiskutierenden Leuten erkannte ich im Zigarrenrauch ein aus
den Zeitungen bekanntes Gesicht, das des alten „Januschauer“, des Kammerherrn v.
Oldenburg, der zwei Güter im Kreise besaß und dort auch wohnte. Er war berühmt
geworden durch seinen Ausspruch, die Disziplin in der Armee müsse so zuverlässig
sein, daß jederzeit ein Leutnant und zehn Mann genügten, um den Reichstag
auseinanderzujagen. Jetzt blickte er vergnügt und anscheinend siegesbewußt um
sich; offenbar hatte er erreicht, was er wollte. Ich fragte den Kellner, der
mich in mein Zimmer führte, was hier denn los sei. Er antwortete gleichmütig:
„Ach, das sind die Landwirte. Die protestieren nur gegen den neuen Landrat!“
Oben in meinem
Zimmer konnte ich über diese ersten Eindrücke nachdenken, und erst jetzt
dämmerte in mir die Ahnung auf, daß ich stürmischen Zeiten entgegengehen würde.
Als man mir mit überraschender Kühnheit die Verwaltung eines ostpreußischen
Kreises, eben des Kreises Rosenberg, übertragen hatte, bestanden die einzigen
schweren Aufgaben, die mir angekündigt wurden, einmal in der Elektrifizierung
des Kreises, die auf Grund der Kriegsfolgen in den Anfängen steckengeblieben
war, und zum anderen in der im Versailler Friedensvertrag vorgesehenen und bald
bevorstehenden Regulierung der nicht weniger als 100 Kilometer messenden neuen
Grenze gegenüber Polen. Über meinen Vorgänger in der Verwaltung des Kreises,
einen Regierungsrat v. Versen, hatte ich sich widersprechende Urteile gehört.
Seine Abberufung sei erfolgt, wie man mir im Ministerium sagte, weil er mit dem
Elektrizitätsproblem nicht fertig wurde; politisch gehe er ganz mit den
Vertretern des Großgrundbesitzes zusammen. Von diesen sprach man wie von einer
gegnerischen Macht. Die nutzbare Bodenfläche des rein landwirtschaftlichen
Kreises mit seinen rund tausend Quadratkilometern befand sich zu zwei Dritteln
in Händen des Großgrundbesitzes, und an ihrer Spitze stand außer der formidablen
Figur des Elard v. Oldenburg auf Januschau eine Reihe adeliger Herren, die
gewohnt waren, daß der Landrat aus ihren Kreisen kam.
Die Schreibtische sind leer, die
Stühle hochgestellt
Da ich der erste
nichtadelige Landrat war, noch dazu nicht aus dem Kreis stammte und einer Partei
[der Deutschen Demokratischen Partei] angehörte, die links von den Konservativen
stand, also nach Ansicht des Landadels nicht viel anders zu beurteilen war als
die Kommunisten, war ich darauf gefaßt, von einem Teil der Bevölkerung nicht
gerade begeistert begrüßt zu werden. Aber auf offenen Widerstand war ich weder
vom Ministerium in Berlin noch vom Oberpräsidium in Königsberg vorbereitet
worden. Offen gestanden, hatte ich mir mit meinen vierunddreißig Jahren auch
keine allzu ernsten Sorgen gemacht.
Ich wurde eines
Besseren, oder sagen wir, eines Schlechteren belehrt. Am Morgen nach meiner
Ankunft ging ich zu Fuß durch das freundliche Städtchen, das mit seinen 3500
Einwohnern eher ein großes Dorf war, und fand im Landratsamt, einem schmucklosen
Gebäude am Marktplatz, wohl meinen Freund vom Vorabend, Herrn Oehlschläger, in
seinem Arbeitszimmer vor und vier Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der
staatlichen Abteilung der Kreisverwaltung. Man muß wissen, daß der Landrat eine
Doppelfunktion besaß; er war als commissarius regius Vertreter der
Staatsregierung und verfügte in dieser Eigenschaft über ein besonderes kleines
Büro. Hier war denn auch alles in Ordnung. Aber in seinem zweiten Gebiet, der
kommunalen Selbstverwaltung des Kreises, vergleichbar der Verwaltung einer
größeren Stadt, stand dem Landrat ein erheblicher bürokratischer Apparat mit
etwa 40 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zur Seite; hier regierte er, wie ein
Oberbürgermeister mit seinem Magistrat, als Vorsitzender eines sechsköpfigen
Kollegiums, des Kreisausschusses, auf dessen zustimmenden Beschluß er in allen
wichtigen Fragen angewiesen war. Als ich die sogenannten Kreisaussschußräume
betrat, fand ich eine gespenstische Öde vor. Mit Ausnahme eines einzigen
Schreibtisches, an dem ein verdrossener, unschlüssig aussehender älterer Herr
saß, waren alle Arbeitsplätze unbesetzt. Die Schreibtische waren leergeräumt,
die Stühle übereinander gestellt, eine Kreisverwaltung gab es nicht mehr.
Oehlschläger,
dessen Zuständigkeit mit den staatlichen Räumen ein Ende gefunden hatte, war mir
auf meine Bitte, wenn auch in offensichtlicher Verlegenheit, gefolgt. „Ich würde
empfehlen, jetzt das Landratszimmer aufzusuchen“, bemerkte er in beherrschtem
Ton. Ich ging in den preußisch-schmucklosen Raum und fand auf dem Schreibtisch
eine wohlgeordnete Anzahl von offen ausgebreiteten Dokumenten. Als ich das erste
aufnahm, las ich das Protokoll: „Der Kreisausschuß hat in seiner Sitzung vom 10.
Januar beschlossen, die Beamten und Angestellten des Kreisausschusses bis auf
weiteres zu beurlauben.“ – „Der Kreisausschuß hat … beschlossen, das Kreisauto
zu verkaufen und es bis dahin unter Verschluß zu halten.“ – „Der Kreisausschuß
hat … beschlossen, die Dienstwohnung des Landrats in dem dem Kreis gehörigen Hof
Rosenberg für den Preis von 400 Mark jährlich Herrn Regierungsrat v. Versen
unabhängig von seiner dienstlichen Verwendung zunächst bis zum 1. Oktober zu
vermieten.“– „Der Kreisausschuß hat dem sofortigen Ausscheiden des
Kreischauffeurs Grablowski aus dem Kreisdienst zugestimmt.“ Wie ich bald erfuhr,
hatte ihn mein Vorgänger in seinen persönlichen Dienst übernommen, nicht ohne
ihm sein Gehalt aus der Kreiskasse auf drei Monate im voraus zu zahlen!
Ein Ehrenwort gegen die Republik
Ich fragte nach
dem Aufenthalt v. Versens, der mir ja eigentlich die Dienstgeschäfte hätte
übergeben müssen. Aber weder Oehlschläger noch der verdrossen einsame ältere
Herr vermochten Auskunft zu geben. Es gelang mir trotz Fehlens der Telephonistin,
den Fernsprechanschluß mit der Dienstwohnung herzustellen, und eine weibliche
Stimme antwortete, v. Versen sei in Rosenberg gegenwärtig nicht erreichbar. Aus
den Schreibtischpapieren entnahm ich, daß v. Versen die Dienstgeschäfte am
Vortage dem Kreisdeputierten – einem der beiden nach der Kreisordnung bestimmten
Vertreter des Landrats – einem Herrn v. Puttkamer, Groß Plauth, übergeben hatte.
Ich rief auch diesen an, erreichte ihn sogar persönlich und bat ihn, zur
Übergabe der Geschäfte nach Rosenberg zu kommen. „Im Laufe der nächsten Wochen
ist es mir unmöglich, nach Rosenberg zu fahren!“ – „Dann bitte ich, Sie heute
nachmittag in Groß-Plauth aufsuchen zu dürfen.“ – „Auch das geht nicht, da ich
zu verreisen gedenke.“ Vollends eröffnete mir nunmehr der verdrossen-einsame
ältere Herr, Kreisausschußobersekretär Pietzke, der, wie sich jetzt
herausstellte, verdächtig war, links zu stehen, und der daher in das Komplott
nicht einbezogen worden war, daß Herr v. Puttkamer alle sechs
Kreisausschußmitglieder ehrenwörtlich verpflichtet hatte, an keiner von mir
einzuberufenden Sitzung teilzunehmen. Ebenso seien die Amtsvorsteher
verpflichtet worden, kein Schreiben von mir zu beantworten.
Ein letzter
Strohhalm war der vorgesetzte Regierungspräsident, Graf v. Baudissin, in dem
etwa 30 Kilometer entfernten Marienwerder. Er hatte die Güte, sich mit mir
verbinden zu lassen, erklärte aber auf meine Bitte, mich sofort zu empfangen, er
habe jetzt keine Zeit, ich solle am nächsten Tage kommen. Bei meinem
Antrittsbesuch war dann Graf v. Baudissin betont formell und höflich. Auf meine Bitte,
gegenüber dem offenbaren Boykott zu vermitteln, der die Kreisinteressen und die
Staatsinteressen auf das schwerste gefährdete, erklärte er jedoch, das sei
aussichtslos. Ich solle mich für die unangenehme Lage bei denen bedanken, die
mich gegen seinen, Baudissins, Rat nach Rosenberg geschickt hätten!
Der für einen
hohen preußischen Beamten geradezu unbegreifliche Bescheid öffnete mir endgültig
die Augen; ich erkannte, woran ich war, sah aber zunächst keinen Ausweg. Im
fernen Königsberger Oberpräsidium, wo erprobte Demokraten wie Oberpräsident
Siehr und Oberpräsident Grzimek amtierten, Rat und Hilfe zu erbitten, hätte viel
Zeit erfordert; auch hätte man mit den beratenden und beaufsichtigenden
Kompetenzen des Oberpräsidenten kaum etwas ausrichten können. Offenbar war man
dort auch uninformiert, weil man mich sonst auf die Lage in Rosenberg
vorbereitet hätte.
Wieder abzureisen
und dem Minister in Berlin zu melden, daß ich die übertragene Aufgabe nicht
erfüllen könnte, also das zu tun, was die Herren v. Oldenburg und v. Puttkammer,
wahrscheinlich auch Graf Baudissin, von mir erwarteten, kam selbstverständlich
nicht in Frage. Andererseits sofort mit Polizei und Gericht vorzugehen, wäre
aussichtslos gewesen. Dabei war rasches Handeln geboten. Die Grenzregulierung,
bei der unter französischem Vorsitz Deutsche und Polen um jedes Gehöft zu ringen
hatten, stand unmittelbar bevor. Noch wurden viele Lebensmittel mit Karten
bewirtschaftet, und die Verteilung musste klappen, wenn nicht die Städte hungern
sollten. In Berlin und Königsberg hatte man mir die schleunige Fortführung der
Elektrifizierung ans Herz gelegt, da jeder Tag Zinsen kostete und das bereits
angeschaffte Material im Winterwetter zu verderben drohte. Nun, alle Akten, die
diese Hauptaufgaben betrafen, waren unauffindbar; es stellte sich rasch heraus,
daß v. Versen sie teils selbst mitgenommen, teils an einige ihm besonders
nahestehende Angestellte verteilt hatte. Diese jedoch waren sämtlich, mit
Ausnahme des Herrn Pietzke, beurlaubt!
Um überhaupt mit
rechtlicher Wirkung handeln, also die Sabotageakte rückgängig machen und die
normale Arbeit wieder in Gang setzen zu können, bedurfte ich nach den
gesetzlichen Bestimmungen der Beschlußfassung des Kreisausschusses. Wie konnte
ich diese aber zustande bringen, wenn die Kreisausschußmitglieder meinem Ruf zur
Sitzung nicht folgten? Im Rechtsstaat sind die Auflösung von arbeitsunfähigen
Körperschaften, disziplinarrechtliche Entlassungen von renitenten Beamten,
Neuwahl und Neuanstellung mit so vielen formellen Rechtssicherungen umgeben, daß
Jahre vergangen wären, ehe ich eine arbeitsfähige Verwaltung auf die Beine
gestellt hätte. Es kam also darauf an, in die scheinbar lückenlose und
unangreifbare Front einzubrechen und die Diensträume wieder mit arbeitswilligen
Beamten und Angestellten zu füllen.
Am nächsten
Morgen beriet ich mich mit Herrn Pietzke, dem einzigen, der ein wenig Bescheid
wußte, ohne in der gegnerischen Front mitzukämpfen. Auf meine Frage, wie man
eine beschlußfähige Kreisausschußssitzung zustande bringen könnte, empfahl er
abzuwarten, bis sich die Gemüter beruhigt hätten. Das aber konnte ich nicht
verantworten. Zur Beschlußfähigkeit des Kreisausschusses war neben dem Landrat
die Mitwirkung von zwei Mitgliedern vorgeschrieben. Diese zwei galt es
herbeizuschaffen.
Eines der
Kreisausschußmitglieder war der Bürgermeister von Rosenberg, Herr Hermsdorf. Er
galt als parteilos, gutmütig und jedem Streit abgeneigt. Kurz entschlossen rief
ich bei ihm an und kündigte ihm mit strahlender Liebenswürdigkeit meinen sofort
erfolgenden Antrittsbesuch an. Das war nach den örtlichen Gepflogenheiten
ungewöhnlich; der Herr Landrat pflegte die nachgeordneten Herren zu sich zu
bitten. Aber so entfiel die Versuchung für Herrn H., krank zu werden oder
verreisen zu müssen. Vor dem Rathaus stand der salutierende Ortspolizist, schon
ein günstiges Vorzeichen. Oben begann ich mit einer unbefangenen Plauderei, ging
dann langsam auf dienstliche Fragen über, freilich ohne die vorgefundene
Konfliktlage auch nur andeutungsweise zu erwähnen. Um so eifriger betonte ich
die Notwendigkeit voller Harmonie zwischen dem Landrat und dem Leiter der
Kreisstadt. Der endgültige Standort des Kraftwerkes könne natürlich auch
außerhalb Rosenbergs gewählt werden. Bei den Eisenbahn- und Straßenbauten, die
die neue Grenze unerläßlich machte, ständen Lebensinteressen der Stadt auf dem
Spiele, wobei sogar an die Verlegung des Sitzes der Kreisverwaltung nach der
größten Stadt des Kreises, Deutsch-Eylau, gedacht würde. Mein Gesprächspartner
wurde unruhig, und Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn, worauf ich ihn
beschwichtigte, die Staatsregierung werde selbstverständlich eine loyale
Haltung, die die Stadt, insbesondere ihr Bürgermeister, bei allen politischen
Auseinandersetzungen einnehme, nicht unberücksichtigt lassen. Nun, Herr
Hermsdorf fragte mich zum Abschied, ob ich bereit sei, seine Aufnahme in die
Deutsche Demokratische Partei zu befürworten. „Natürlich, wenn Sie mich so
verständnisvoll unterstützen, wie Sie es ja offenbar vorhaben. A propos,
für übermorgen rufe ich den Kreisausschuß zusammen, erwarte Sie also nachmittags
4 Uhr!“ Der arme Mann getraute sich nicht, an sein gegenteiliges Ehrenwort zu
erinnern, sondern sagte eifrig zu. Ich selbst hütete mich, an die frische Wunde
zu rühren. Jedenfalls hatte ich den ersten Trumpf gewonnen.
Durch die Kuchenberge bei Bauer
Grönke
Nun aber der
zweite! In langer Beratung mit Herrn Pietzke kam ich zu dem Schluß, daß von den
verbleibenden fünf Mitgliedern des Kreisausschusses der Bauer Grönke,
Amtsvorsteher in Guhringen, am ehesten für Zureden zu haben sein werde. Auch
hier meldete ich mich unbefangen zu einem Antrittsbesuch an, diesmal für die
Kaffeestunde. Das war in der Geschichte Guhringens noch nicht verzeichnet, daß
der Landrat als Kaffeegast erschien, und Mutter Grönke buk Berge von Kuchen und
stellte ebensolche Berge von Butter, Schinken und köstlichem Landbrot bereit.
Ich fuhr pünktlich vor dem stattlichen Hofe Grönkes vor. Hier nahm ich mir nun
ordentlich Zeit, vertilgte angemessene Teile der beschriebenen, übrigens
vorzüglichen Berge, trank unwahrscheinliche Mengen von mäßigem Kaffee und
mäßigem Schnaps, besuchte die Ställe, lobte die Ferkel, bewunderte den
Gemeindebullen, freute mich über das drei Tage alte Fohlen und sprach kein Wort
von meinen Sachen. Spät am Abend brachte mich Grönke mit der ganzen Familie zum
Wagen, während die Dorfjugend Spalier bildete. Im Einsteigen sagte ich beiläufig
zu meinem Gastgeber: „Übrigens übermorgen nachmittag haben wir
Kreisausschußsitzung; ich freue mich auf das Wiedersehen.“ Der Bauer war aus
härterem Holz geschnitzt als der Bürgermeister, er wurde tiefrot und stammelte:
„Ich kann doch nicht kommen.“ – „Nanu, warum denn nicht, Sie sind doch
Mitglied?“ – „Ich habe doch mein Ehrenwort gegeben!“ Nun möglichst obenhin:
„Aber, lieber Herr Grönke, das haben Sie doch nicht freiwillig getan, wie ich
Sie jetzt kenne.“ – „Nein, natürlich nicht, gewiß nicht.“ – „Na, dann gilt das
Ehrenwort doch nicht. Es steht ja auch im Widerspruch zu Ihren beiden Amtseiden
als Kreisausschußmitglied und als Amtsvorsteher. Da haben Sie doch geschworen,
Ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen. Und zwar haben Sie das freiwillig
beschworen, oder nicht?“ – „Natürlich, Herr Landrat.“ „Na, dann ist es doch
klar! Das, was Ihnen Herr v. Puttkamer abverlangt hat, ist selbstverständlich
ungültig gegenüber dem, was Sie freiwillig und amtlich geschworen haben, habe
ich nicht recht?“ – „Jawohl, Herr Landrat“, preßte Grönke hervor, und als ich
ihm aus dem Wagen die Hand drückte und „auf Wiedersehen übermorgen um 4 Uhr!“
zurief, konnte er nur noch stumm nicken.
Trotzdem wollte
ich mit meiner entscheidenden Kreisausschußsitzung sichergehen; damit nicht im
maßgebenden Augenblick die Tochter krank oder das Pferd lahm wurde, nahm ich das
letzte Mal das Mietauto und fuhr an dem kritischen Tage in Guhringen vor, um
meinen Freund abzuholen, und, da auch der Bürgermeister überrechtzeitig eintraf,
konnten wir zur festgesetzten Stunde pünktlich und beschlußfähig im
Sitzungszimmer des noch immer leeren Kreishauses zusammentreten. Die vier
anderen Mitglieder, die ich schriftlich mit der Post geladen hatte, waren ohne
Entschuldigung fortgeblieben. Ich leitete mit einer kurzen Ansprache ein, in der
ich die nationale und lokale Dringlichkeit einer arbeitsfähigen Kreisverwaltung
darlegte, ging aber mit keinem Wort auf die Verschwörung der Herren v. Oldenburg
und v. Puttkamer ein.
So legte ich
unbekümmert das von den beiden mitunterschriebene Protokoll der letzten Sitzung
vor, und Punkt für Punkt, in systematischer Reihenfolge, wurden die
Boykottmaßnahmen rückgängig gemacht. Ich schickte den Kreisboten noch am
Nachmittag in sämtliche Wohnungen der Beamten und Angestellten mit der
schriftlichen Anweisung an jeden, am nächsten Morgen bei Vermeidung
disziplinarrechtlicher Verfolgung pünktlich und mit allen in ihren Händen
befindlichen Aktenstücken zum Dienst zu erscheinen. Und alle, alle kamen und
setzten sich an die Arbeit, als wenn nichts geschehen wäre.
Es gab noch
einige Rückzugsgefechte, die aber alle mißglückten. Bei der im Frühjahr 1921
angesetzten Neuwahl des Kreistages konnten die Deutschnationalen nicht wagen,
die Herren v. Oldenburg und v. Puttkamer wieder kandidieren zu lassen, und in
der neuen Körperschaft stand den 13 Rechtsblock-Mitgliedern eine recht
kampfbereite Front von 11 Linksparteilern gegenüber. Vom Rechtsblock spalteten
sich schon in den ersten Sitzungen genug Vernünftige ab, um mir für die ganzen
vier Jahre meiner Landratstätigkeit eine sichere Mehrheit für meine Arbeit zu
gewährleisten. Versen wurde von der Preußischen Regierung nach einem
Disziplinarverfahren aus dem Staatsdienst entlassen.
Noch einmal rief
der alte Januschauer zu einer Protestversammlung auf; als aber nur noch ein
Drittel der Leute, die an der Versammlung am Abend meines Eintreffens in
Rosenberg teilgenommen hatten, dem Rufe folgten, resignierte er. „So auf das
falsche Pferd gesetzt habe ich noch nie“, sagte er zu einem Freunde. Die Lektion
hielt nicht lange vor; schon fünf Jahre später war er einer der Hauptanstifter
des Class-Putsches, und 1933 begann er mit der Unterstützung und Beratung
Hitlers und der Rückkehr in den Reichstag eine neue verhängnisvolle Rolle zu
spielen. Sicherlich war er kein eigentlicher Nationalsozialist, und wenn er noch
lebte, würde er diese Bezeichnung entrüstet ablehnen. Aber sein
leidenschaftlicher Haß auf die Demokratie, die Sorge um die jahrhundertelange
Vormachtstellung und ein verstiegenes Nationalgefühl machten ihn zum Wegbereiter
und Helfer der Verderber Deutschlands. Bei dem starken Einfluß, den v. Oldenburg
auf Hindenburg ausübte – auch [Hindenburgs Gut] Neudeck lag im Kreis Rosenberg –
besteht hohe Wahrscheinlichkeit, daß es gerade auf ihn zurückzuführen ist, wenn
Hindenburg sich mit dem „böhmischen Gefreiten“ abfand und damit dem deutschen
Unheil freie Bahn ließ.
* Der Autor dieses Textes, Ferdinand
Friedensburg (1886 bis 1972), Jurist und Bergbaufachmann, wurde nach seiner
Landratszeit 1925 Vizepräsident der Berliner Polizei und 1927
Regierungspräsident in Kassel. 1933 amtsenthoben, war er von 1946 bis 1951
stellvertretender Oberbürgermeister (CDU) von Berlin. Zugleich leitete er bis
1968 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Seine Erinnerungen, 1969
erschienen, sind seit langem vergriffen.
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Quellen:
Aus den Erinnerungen von
Ferdinand Friedensburg (1886 bis 1972), erschienen
1969;
veröffentlicht in: DIE ZEIT 06/2003,
(http://www.zeit.de/2003/06/A-1933),
30.1.2003 |
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weitere Informationen:
Von deutschen
Schulden
Die unendliche Geschichte der Reparationszahlungen aus dem Ersten Weltkrieg.
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