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Die Kunst des Erinnerns
Erinnern - Vergessen - Verachten:
Zum Umgang der Deutschen mit dem Gedenken

von Klaus W. Wippermann

Wir Deutschen sind auf mancherlei Gebieten Weltmeister, auch wenn solche Vorrangstellung immer wieder verloren gehen kann. In zwei Bereichen aber sind wir Weltmeister, wo wir von anderen Staaten gar nicht eingeholt oder überholt werden möchten: auf dem Gebiet des Erinnerns und dem des Vergessens. Das klingt zunächst außerordentliche disparat, beides - ein Übermaß des Erinnerns wie ein Übermaß des Vergessens - hängt aber durchaus miteinander zusammen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Und noch auf eine andere scheinbare Disparität ist hier schon hinzuweisen: Erinnern ist nicht nur positiv zu deuten und umgekehrt das Vergessen nicht nur negativ. Auch das wird konkret zu begründen sein. Wie es sich hier überhaupt im Ganzen nicht um ein akademisches Thema handelt, nicht um eine abermals gut gemeinte Bemühung der politischen Bildung. Es geht bei unserem Thema vielmehr um nichts weniger als um zwei wahrhaft existentielle Bereiche: erstens um die Identität unserer Nation - und die betrifft sowohl ihre Geschichte wie ihre Gegenwart - und zweitens geht es um die Bewahrung oder derzeit vielmehr um die Wiederherstellung der materiellen und sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft.

Auch hier hängt beides - die ideelle wie die konkrete Existenzsicherung auf der Grundlage gesicherter Identität - eng miteinander zusammen, und zwar so eng und so konfliktreich, daß ein Dramatiker sich eigentlich kein größeres Thema wünschen könnte. Daß dieser Konflikt, der mittlerweile das Ausmaß einer klassischen Tragödie erreicht hat, für unsere Schriftsteller kein Thema ist, das versteht sich leider von selbst. Und für unsere Politiker ist dieser fundamentale Konflikt, in dem sich unsere Nation derzeit befindet, offenbar ebenfalls nicht vorhanden.

Die „Kunst des Erinnerns“ - das ist angesichts der hier vorhandenen Selbstblockaden und aufgrund der mit dem Aussterben der Kriegsgeneration zu befürchtenden weiteren, geradezu hysterischen Fehlentwicklungen zeitgeschichtlicher Erinnerung also alles andere als ein Istzustand, sondern leider im Gegenteil immer noch eine Mahnung, eine Herausforderung, diese schwierige Kunst zu erlernen. Nur dann kommen auch die beiden Begriffe wieder zusammen, die der verstorbene Papst Johannes Paul II. seinem letzten, kürzlich erschienenen Buch als Titel gegeben hat: „Erinnerung und Identität“. Diese beiden Worte könnten in ihrer so wichtigen wechselseitigen Bedingung auch hier als eine Art Leitmotiv gelten. Denn Identität ist ohne Erinnerung nicht möglich; eine einseitige Erinnerung aber führt zu einer gestörten Identität. Die Arbeit an einer vollständigen, komplexen Erinnerung - eben die „Kunst der Erinnerns“ -, wie sie uns die deutsche Zeitgeschichte auferlegt hat, ist nur mit einer nicht infrage gestellten Identität möglich. Gelingt dies nicht, werden Ungeheuer geboren. Es darf nicht dazu kommen, daß eine unaufhörliche „Bewältigung der Vergangenheit“ letztlich eine Überwältigung der Gegenwart und sodann eine Nichtmehrbewältigung der Zukunft zur Folge hat. Dieses große Spannungsverhältnis soll also der Rahmen für die folgenden Ausführungen sein.

Der jüdische Talmud enthält einen Spruch, der auch bei uns sehr geschätzt wird: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ In der Bundesrepublik gibt es seit über einem halben Jahrhundert ein ehrliches, außerordentlich intensives Gedenken an die Holocaust-Opfer; die Zahl der Erinnerungstafeln, der Mahnmale und Gedenkstätten ist kaum noch überschaubar. Allein die beiden von der Bundeszentrale für politische Bildung erstellten gewichtigen Dokumentationsbände beschreiben über 8ooo solcher Erinnerungsmale. Haben wir damit „Erlösung“ erreicht?

Offenbar aber trifft dieser Spruch auch in seinem Gegenteil zu: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Vergessen“ - nämlich dann, wenn es um „deutsche“ Opfer geht. Ganz offensichtlich gilt für sie nicht die Maxime, nach der sich bei uns sogar eine eigene Initiative benannt hat: „Gegen das Vergessen“. Für deutsche Opfer lautet die politisch korrekte Forderung vielmehr: „Für das Vergessen!“ Gegenteilige Versuche des Erinnerns werden sogleich als „ewiggestrig“ verurteilt. „Ewiggestrig“ soll also offenbar nur die Erinnerung an die „eigenen“ Opfer sein, die Erinnerung an die „anderen“ dagegen zukunftsweisend. Das ist eine sehr seltsame, ja gegensätzliche Zweiteilung des Opfergedenkens und für die politische Kultur unseres Landes äußerst problematisch.

Ist das in dieser Kürze zu hart, zu polemisch formuliert? Ich meine nicht, denn wenn es um die „eigenen“ Opfer geht - von den Millionen gefallener und vermißter Soldaten, den Millionen Verwundeter, den Hunderttausenden Frauen, Kindern und alter Menschen, die absichtlich von den Alliierten durch den Bombenkrieg getötet wurden, bis hin zu den 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, von denen zweieinhalb Millionen ihr Leben lassen mußten - wenn es um dieses riesige Millionenheer von Opfern geht, zudem um den Verlust von fast einem Drittel des deutschen Reichsgebietes sowie um die bis in die letzten Kriegsstage hinein versuchte Auslöschung der alten deutschen Städtekultur - dann ist hierzulande Vergessen und Schweigen geboten. Aber wäre es doch „wenigstens“ nur Schweigen! Nein, diese Abermillionen von Toten und Vertriebenen werden bei uns - von uns! - verhöhnt, verspottet, diffamiert und die wenigen Erinnerungsmale geschändet, ohne daß sich öffentlicher Protest bemerkbar machen würde! Man stelle sich hingegen die politischen Reaktionen vor, bis hin zu sofortigen strafrechtlichen Maßnahmen, wenn eine andere Opfergruppe auch nur sehr entfernt so behandelt werden würde.

Für dieses zutiefst amoralische zweierlei Maß ist unter anderem die Parole verantwortlich: „Deutsche Täter sind keine Opfer!“ Diese zuerst von linksextremen „Antifa“-Gruppen benutzte Unterstellung und Ausgrenzung scheint mir nichts weniger zu sein als Volksverhetzung, die neue Form eines „linken Rassismus“ - wenn nämlich große Menschengruppen nicht aufgrund von ethnischen Eigenarten, sondern wenn sie als Angehörige des eigenen Volkes infolge traumatischer Katastrophen und Schicksalsschlägen verachtet und ausgegrenzt werden. Mir ist kein anderes Land der Welt bekannt, in dem etwas Vergleichbares möglich wäre.

Wenn es um das Gedenken an unsere in zwei Weltkriegen gefallenen Soldaten geht, so hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten auch hier einen weltweit einmaligen Sonderweg in einen moralischen Abgrund beschritten. In keinem anderen Kulturstaat wäre es auch nur denkbar, daß ein solches Gedenken verweigert, mißachtet, ja geschändet würde. Auch eine Diffamierungskampagne wie die sog. „Wehrmachtsausstellung“ - hierzulande öffentlich gefördert und gepriesen - wäre in keinem anderen Staat, der sich noch einen Rest von Selbstachtung bewahrt hat, möglich gewesen. Und mit dem höchstrichterlichen Urteil „Soldaten sind Mörder“ hat unser Land ebenfalls internationale Traditionen und Normen verletzt. Entsprechend entsetzt sind die Reaktionen ausländischer Soldatenverbände. Insbesondere die Sprecher ihrer Veteranenvereinigungen - unsere ehemaligen Kriegsgegner - äußern sich voller Abscheu darüber, wie bei uns Politik und Medien mit den Wehrmachtssoldaten umgehen: „Wir sind angewidert!“, „Es ist nicht zu fassen!“ lautet der Tenor ihrer scharfen Kritik, ja ihrer Verachtung.

Während für die Bundeswehr-Führung die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs (und selbst die des Ersten Weltkriegs), das heißt die eigenen Väter und Großväter, offenbar keine Kameraden sind, setzen sich ihre früheren Gegner bei unseren Politikern - bis hin zum Bundespräsidenten - für „ihre Kameraden“ ein! „Um für die Ehre des deutschen Soldaten einzutreten“, die in Deutschland mißachtet werde, obwohl „sie ihr Leben für Deutschland gaben“, wandte sich beispielsweise der Sprecher des Veteranenverbandes der 8. britischen Armee - die in Afrika harte Kämpfe gegen Rommel führen mußte - an deutsche Politiker: „Wie ich, haben diese Männer nur noch wenig Zeit vor sich, aber es ist genug Zeit für Deutschland, ihnen ihren Stolz zurückzugeben. In der Zeit des Krieges haben sie ihre Pflicht vorangestellt; es ist jetzt Zeit für Deutschland, seinerseits seine Pflicht für sie zu tun.“

Dieser Pflicht zur objektiven Würdigung kommt öffentlich bisher nur das Ausland nach. Eine internationale Studie des israelischen Generalstabs stellte z.B. fest, daß sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg von allen beteiligten Armeen die deutschen Soldaten die tapfersten waren. Auch der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld konstatierte, daß die Wehrmacht „besser als jede andere moderne Streitkraft die Verbindung von Initiative und Disziplin“ verkörperte, sie ferner insgeheim das Vorbild der israelischen Armee sei, ohne daß diese ihre Qualitäten je erreicht habe. Und der französische Staatspräsident Mitterand erklärte am 8. Mai 1995 anläßlich des 5o. Jahrestages des Kriegsendes: „Die deutschen Soldaten - sie waren tapfer. Sie nahmen den Verlust ihres Lebens hin, sie liebten ihr Vaterland. Ich verneige mich vor ihnen allen und ihnen gehört meine Hochachtung und Verehrung.“

Wie demgegenüber von der Bundeswehr-Führung sowie vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt über die Wehrmacht - die „Nazi-Wehrmacht“ oder „Hitler-Wehrmacht“, wie man sie neuerdings diffamiert-, wie also über die seinerzeit mehr als 18 Millionen deutscher Soldaten und damit zugleich über ihre Familien und das heißt letztlich über das ganze Volk geurteilt wird, das ist eigentlich nur noch mit Hilfe pathologischer Kategorien darzustellen. Der eigene Traditionserlaß von 1982, der immer noch gilt, wird seit langem in sein Gegenteil verkehrt. Dort heißt es nämlich: „Tradition verbindet die Generationen, sichert die Identität und schlägt eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Tradition ist eine wesentliche Grundlage für menschliche Kultur.“ Mit dieser Formulierung wäre es immerhin möglich gewesen, wenigstens für das auf Tradition so angewiesene Militär die „Kunst des Erinnerns“ zu verwirklichen. Aber, wie gesagt, das absolute Gegenteil ist leider der Fall.

Ein Beispiel für die Zerstörung von Tradition und Identität ist die Umbenennungen von Kasernen-Namen. Jüngste Maßnahme ist die Abschaffung des Traditions- und Ehrennamens

„Mölders“ für das Jagdgeschwader und eine Kaserne. Hier hat es immerhin zahlreiche Proteste gegeben. So erinnerte ein Offizier daran, daß in der preußischen Armee Ehrenbezeichnungen im Kriege wegen erwiesener Feigheit vor dem Feind entzogen wurden. Die Parallele zu heute möge jeder selbst ziehen. In einer Zeit allerdings, da Tapferkeit geschmäht, Deserteure hingegen hoch geschätzt werden, muß man sich nicht über Verwirrtheit und skandalöse Fehlentscheidungen wundern. Es bleibt aber der öffentliche Protest!

In einer solchen Zeit ist auch die vielgerühmte Innere Führung nichts als Aktenstaub, wenn sie nicht gegen Anpassertum und Opportunismus vorgelebt wird. Ein Beispiel dafür ist der „unehrenhaft“ entlassene Brigadegeneral Reinhard Günzel. In seiner wegweisenden Rede vom Frühjahr 2oo4 in Berlin über „Das Ethos des Offiziers“ hat er die heute mehr als je notwendigen Wertorientierungen benannt. Nachdem er die Kategorien Opportunismus und Feigheit als für das deutsche Militär offenbar neue, verbindliche „Qualitäten“ aus eigener Erfahrung charakterisiert hatte, schloß er mit einem Ausblick auf dieselbe „Qualitäten“ unserer veröffentlichten Meinung mit einem Zitat des Dichters Gottfried Benn: „Das Abendland geht nicht zugrunde an den totalitären Systemen, auch nicht an seiner geistigen Armut, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Zweckmäßigkeiten.“

Das war jetzt ein etwas rascher Durchgang zum Verhältnis Erinnern - Vergessen - Nichtachtung bzw. Verachtung mit einem Akzent auf der Militärgeschichte und des heutigen Militärs aus Anlaß des 8. Mai. Ein gewisser Schwerpunkt soll im Folgenden sein, wie es zu diesem deutschen Sonderweg des Verlustes von nationaler wie staatlicher Selbstachtung gekommen ist - wer diese Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten beeinflußte und wer sie heute fördert -, und nicht zuletzt: welche Interessen und Ziele dahinter stehen. Diese sind durchaus konkret zu benennen, denn auch hier gibt es „Täter“ und „Opfer“. Und es sei nochmals betont: Hier handelt es sich nicht um ein akademisches Thema, sondern um ein für unseren Staat existentielles. Im Gegensatz dazu steht nicht, daß auch von Geschichtspolitik die Rede sein wird, von instrumentalisierter Erinnerungspolitik, denn diese bestimmt nicht nur das Handeln bzw. die Barrieren für ein rationales Handeln der „hohen“ Politik, sondern sie beeinflußt auch unser Alltagsleben, unser alltägliches Selbstverständnis - wenn wir etwa unablässig eingehämmert bekommen, daß wir ein „Tätervolk“ sind, daß wir uns in Fortsetzung des unseligen Kollektivschuld-Vorwurfs als „Volk der Täter“ zu verstehen haben. Eigenartigerweise wird das „Völkische“ in diesen „Tätervolk“-Anklagen von den Beschuldigern offenbar gar nicht bemerkt. Denn andererseits soll es ja, wenn es nach ihnen geht, kein „deutsches Volk“ mehr geben, sondern nur noch eine identitätslose und somit manipulierbare „Bevölkerung“.

Wie diese Strategie der Manipulation funktioniert, hat der Historiker Michael Stürmer in äußerster Knappheit folgendermaßen formuliert: daß nämlich „in geschichtslosem Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet“. Stürmer tat diesen Ausspruch ein Jahr nach der berühmten Rede Richard von Weizsäckers: „Zum 4o. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“, seiner Ansprache am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages. Diese vielbeachtete und in hoher Auflage verbreitete Rede wurde damals - man muß heute sagen: seltsamerweise - als eine Art Durchbruch und Aufbruch verstanden. Warum? Weizsäcker widersprach zum einen der wiederauferstandenen Kollektivschuldthese: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Landes gibt es nicht. Schuld ist ... nicht kollektiv, sondern persönlich.“ Und er fuhr fort: „Der ganz überwiegende Teil unserer heutigen Bevölkerung war zur damaligen Zeit entweder im Kindesalter oder noch gar nicht geboren. Sie können nicht eine eigene Schuld bekennen für Taten, die sie gar nicht begangen haben.“

Diese Rede wurde vor zwanzig Jahren gehalten. Nach der heutigen indoktrinierten veröffentlichten Meinung wird nun sogar von den Enkel- und Urenkelkindern ein Schuldbekenntnis erwartet und eingefordert. Und wenn es nach dem Wunsch von Funktionären wie Michel Friedman gehen sollte, hat dies für alle Ewigkeiten zu gelten.

Der andere, damals ebenfalls wie die Ablehnung der Kollektivschuldthese zurecht als positiv gewertete Aspekt der Weizsäcker-Rede war, daß er auch an die deutschen Opfer erinnerte. Heute würde v. Weizsäcker dafür wohl aus der CDU ausgeschlossen, wenn man u.a. die Berliner Vorgänge um einen dortigen Bezirksbürgermeister und die Auseinandersetzungen um seine Wertung des 8. Mai oder auch seine Ansprache zum Volkstrauertag 2oo4 als Maßstab nimmt. Dabei hatte schon Theodor Heuss von einer „tragischen Paradoxie des 8. Mai“ gesprochen, daß nämlich mit der bedingungslosen Kapitulation die Deutschen „in einem zugleich befreit und vernichtet worden sind“. Den Tag der Kapitulation nur als „Tag der Befreiung“ zu deuten, ohne zugleich des mit diesem Tag beginnenden millionenfachen Todes in Deutschland sowie abermals beginnender Unfreiheit hierzulande zu gedenken, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Und auch nicht Kurt Schumacher, der zu selben Zeit ebenfalls auch scharf kritisierte: „Mit dem Wort von der Gesamtschuld beginnt eine große geschichtliche Lüge, mit der man den Neubau Deutschland nicht vornehmen kann.“ Diese Worte des früheren KZ-Häftlings und Vorsitzenden der SPD von der Kollektivschuld als „große geschichtliche Lüge“ wären heute nicht mehr publizierbar, da sie den Nachteil haben, der Wahrheit zu entsprechen.

Die Kritik von Konservativen und Geschichtsbewußten an der Rede v. Weizsäckers entzündete sich später an anderen seiner Formulierungen, hatte dieser doch selber zunächst betont -, und damit eine Definition für die „Kunst des Erinnerns“ gegeben: „Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.“ Wie aber vertrug sich mit diesem Anspruch auf Wahrhaftigkeit sein lapidarer Satz: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, wo doch die bekannte Militärdirektive JCS 1067 der Alliierten bestimmte: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat.“

Zu v. Weizsäckers Gunsten muß hinzugefügt werden, daß er auch das nun beginnende Leid benannte: „Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai begannen und danach folgten.“ Aber bei der Benennung dieser Leiden blieb er doch sehr zurückhaltend bis hin zu der von vielen als skandalös empfundenen Formulierung von der „erzwungenen Wanderschaft Millionen Deutscher“. Daß es sich bei dieser „Wanderschaft“ um brutale Vertreibung, um den Tod von Millionen von Menschen , also um einen Völkermord handelte, davon kein Wort. Auch kein Wort, daß hier ein in der neueren Geschichte Europas unvergleichlicher Raub von fast einem Drittel des früheren deutschen Reichsgebietes - gegen jedes Völkerrecht - erfolgte. Statt dessen fand v. Weizsäcker erwähnenswert: „Auf vielen alten Friedhöfen im Osten finden sich heute schon mehr polnische als deutsche Gräber.“ Daß, als er diese offenbar versöhnlich gemeinten Worte sprach, die deutschen Gräber von den Polen schon längst zerstört und abgeräumt sowie überall die Erinnerungen an die Jahrhunderte deutsche Kulturleistungen ausgelöscht worden waren - auch darüber in seiner Rede kein Wort!

Eine ähnlich verharmlosende Geschichtssicht - immer dann, wenn es um die Schuld anderer Staaten geht - ist es auch, wenn v. Weizsäcker sagte: „Die Sowjetunion nahm den Krieg anderer Völker in Kauf, um sich am Ertrag zu beteiligen.“ Erfolgte etwa kein sowjetischer Überfall auf Polen und dann auf Finnland? Gab es keine noch sehr viel weiterreichenden globalen Eroberungsstrategien der Sowjetunion? Hat es nicht die insgesamt 8o Millionen Opfer roter Diktaturen gegeben - eine welthistorisch wahrhaft unvergleichliche Zahl? Diese sehr viel größeren Verbrechen des „linken Faschismus“ (um eine Formulierung von Jürgen Habermas aufzugreifen) werden bis heute aufgrund bestimmter Interessen bewußt verschwiegen. Dagegen ist die anhaltende Tendenz unübersehbar, immer noch uns Deutschen angeblichen Militarismus und imperiales Streben zuzusprechen, andere Staaten aber trotz ihrer eindeutigen Vergangenheit davon freizusprechen. Und so wird auch der eigentliche deutsche Sonderweg sichtbar: Während alle Staaten dieser Welt ihre Geschichte zu ihren Gunsten schreiben - und das heißt allermeist zu ihren Gunsten fälschen, zumal wenn es gilt, Ansprüche gegenüber ihren Nachbarn zu erheben oder deren Ansprüche abzuwehren - , fälschen wir Deutschen als einziger Staat unsere Geschichte dann, wenn die Fakten zu unseren Gunsten sprechen, ferner auch, um etwaige eigene Ansprüche zu leugnen oder zu vermeiden.

Weizsäcker bewegte sich in seiner viel beachteten Rede in den Bahnen eben dieser Geschichtspolitik, als er grundsätzlich feststellte: „Wir dürfen den 8. Mai nicht vom 3o. Januar 1933 trennen.“ Diese mittlerweile zum Glaubenssatz erhobene Feststellung wird seither in allen Variationen wiederholt, aber sie wird deshalb nicht wahrer - auch wenn das immer weniger Menschen wissen. Wahr ist hingegen, daß der 30. Januar 1933 nicht von 1914 und 1919 - dem Beginn des Ersten Weltkrieges und dem Versailler Vertrag - zu trennen ist. Bei der Nennung dieser Jahresdaten - oder vielmehr der Schicksalsdaten - geht es nicht etwa um historische Besserwisserei, sondern um eine fundamentale Einordnung der deutschen Geschichte in den europäischen Kontext im zwanzigsten Jahrhundert. Mehr noch: Es geht um die Korrektur eines ganzen Geschichtsbildes, das uns von außen - und mittlerweile auch von innen - zu bestimmten Zwecken auferlegt wurde und noch wird. Die Korrektur solcher Geschichtsbilder - selbst wenn diese aufgrund neuer, zweifelsfreier Fakten erfolgt - wird immer dann als „Revisionismus“ verurteilt, wenn damit politische Weltbilder und ideologische Herrschaftsansprüche in Gefahr geraten. Der Verzicht auf solche neuen historischen Forschungserkenntnisse bedeutet jedoch das Ende dieser Wissenschaft und den Beginn ihrer Transformation in die Theologie oder vulgär in die Ideologie. Dieses Stadium haben nicht wenige Autoren und ihre Publikationen bei uns erreicht.

Daß insbesondere nach verlorenen Kriegen Tatsachen manipuliert und verfälscht werden, das mögen zwei Zitate zweier sehr unterschiedlicher Autoren veranschaulichen. Erstens Bertolt Brecht: „Immer noch schreibt der Sieger die Geschichte des Besiegten. Dem Erschlagenen entstellt der Schläger die Züge. Aus der Welt geht der Schwächere und zurück bleibt die Lüge.“ Zweitens der amerikanische Publizist und Politiker Patrick A. Buchanan: „Die Welt weiß alles, was die Deutschen getan haben. Die Welt weiß nichts von dem, was den Deutschen angetan wurde.“ Buchanan war übrigens zu vornehm, um zugleich zu erwähnen, daß es auch die Deutschen selbst seien, die nichts von dem an ihnen verübten Unrecht wissen wollen bzw. diesen Zustand des Nichtwissens, also letztlich den der eigenen Desinformation,

selber aufrechterhalten. Wie die Herbeiführung von zunächst Lüge und dann Vergessen funktioniert, das hat gleichfalls ein Amerikaner beschrieben. Mit Blick auf Deutschland in der Nachkriegszeit sagte der bekannte Publizist Walter Lippmann zu den Zielen der „re-education“, der „Umerziehung“: Der Sieg über ein Land sei erst dann vollständig, wenn die Kriegspropaganda der Sieger Eingang in die Schulbücher des besiegten Landes gefunden hat und sie von den nachfolgenden Generationen als unbestreitbare Wahrheit geglaubt wird. Diesen Zustand volkspädagogischer Geschichtspolitik oder geschichtspolitischer Volkspädagogik haben wir seit langem erreicht.

Dagegen befanden britische Politiker und Wissenschaftler schon seit längerem, daß die Westmächte einen „dreißigjährigen Krieg gegen Deutschland“ geführt hätten - d.h., daß 1914 zu 1945 führte, ohne das Jahr 1933 als entscheidende Zäsur dazwischen. Die Erinnerungsfähigkeit - und man muß in diesem Fall sagen: die Fairness - der Briten reicht also etwas weiter zurück, vor die Zeitmauer der sog. Machtergreifung. Der Historiker Fritz Fischer hatte zwar Anfang der sechziger Jahre versucht, eine dominierende Rolle Deutschlands beim Kriegsausbruch 1914 zu konstruieren („Griff nach der Weltmacht“), aber die Briten sind hier weitaus zurückhaltender. Und sie haben auch jeden Grund dazu, selbst wenn man nur die europäische Geschichte betrachtet. Dabei geht es nicht nur um die gezielte britische Einkreisungspolitik gegen Deutschland von 1914 - sowohl politisch wie militärisch - mit Hilfe Frankreichs, das seit 4o Jahren ununterbrochen Revanche, das heißt den Krieg mit Deutschland forderte, sondern auch mit Hilfe des antidemokratischen, imperialen Rußland. Diese Politik wiederholte sich vor und während des Zweiten Weltkrieges. Was die verfälschte, manipulierte Erinnerung an jene Epoche betrifft, die Ernst Nolte als die des „Europäischen Bürgerkrieges“ bezeichnete, so sei dies kurz anhand von drei zeitgeschichtlichen Begriffen illustriert, die bis heute unser historisches Bewußtsein ganz entscheidend prägen. Hier geht es nicht um die „Kunst des Erinnerns“, sondern im Gegenteil um die des Fälschens. Es sind dies die Begriffe „Friedensvertrag von Versailles“, die „Anti-Hitler-Koalition“ und das „Potsdamer Abkommen“. Sie betreffen die Zwischenkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit, also jenen mehr als zweiten „dreißigjährigen Krieg gegen Deutschland“. Wie sehr die Erforschung dieses zeitlichen Terrains nach wie vor tabuisiert, ja geradezu vermint ist - und dies ausgerechnet von uns Deutschen selbst zu unserem eigenen Schaden -, das zeigen u.a. die strikt ablehnenden Reaktionen auf die Bücher von Gerd Schultze-Rhonhof „1939 - Der Krieg, der viele Väter hatte“, und von Stefan Scheil: „Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“. Hier nur sehr kurz eine Demaskierung jener drei Begriffe. Erstens: Der Versailler Vertrag - in unseren Geschichtsbüchern nach wie vor irreführend als „Friedensvertrag“ bezeichnet - war, in Umkehrung der Formel von Clausewitz, eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. In der Weimarer Republik hatte man dies durchaus noch so gesehen, und selbst der französische Ministerpräsident Clemenceau hatte diesen „Vertrag“ so charakterisiert. Der „polnische Korridor“ wie auch die Annektion des Sudetenlandes durch die Tschechoslowakei waren faktisch Kriegserklärungen von Kleinstaaten an die europäische Zentralmacht. Jeder andere größere europäische Staat hätte jedenfalls solche völkerrechtswidrigen, militanten Maßnahmen gegen sich so verstanden. Polen galt im übrigen damals - ganz im Gegensatz zu seiner bis heute anhaltenden Geschichtspropaganda - in den zwanziger Jahren als der aggressivste Staat Europas, der sogleich nach seiner Wiedergründung - u. a. durch das Deutsche Reich selbst - mit jedem seiner Nachbarn den politischen oder militärischen Konflikt zwecks weiteren Landraubs suchte. Man denke nur an seinen unprovozierten Angriffskrieg gegen die noch junge Sowjetunion und das riesige, von Polen im Osten eroberte Gebiet, dessen Wiederherausgabe 1945 die Begründung für Polens sogenannte „Westverschiebung“ und die Vertreibung von über neun Millionen Deutscher wurde. Eine Argumentation, die bis heute bei uns geglaubt wird. Ähnlich ist es mit der Tschechischen Republik und den Benesch-Dekreten. Eine gute Nachbarschaft, die wir alle wollen, wird durch eine solche zutiefst unwahrhaftige Geschichtspolitik sehr erschwert.

Zweitens: Die sogenannte „Anti-Hitler-Koalition“. Sie war das Bündnis von zwei Demokratien mit einer Diktatur, welche nichts weniger als die Vernichtung eben dieser Demokratien zum Programm hatte, und mit einem Diktator, dessen Verbrechen diejenigen Hitlers bei weitem überstiegen. Und eine dieser Demokratien hatte den Krieg erklärt, weil die Deutschen dasjenige Unrecht beheben wollten, welches diese Demokratie zuvor selbst herbeigeführt hatte. Von den geradezu ungeheuren Kriegs- und Nachkriegsverbrechen beider Demokratien gemeinsam mit jener Diktatur ganz zu schweigen. Das alles verbirgt sich also in Wahrheit hinter diesem scheinbar so positiven, „antifaschistischen“ Begriff für die „Wiederherstellung von Freiheit“.

Drittens: Das „Potsdamer Abkommen“. Mit diesem geradezu skandalös verharmlosenden, bürokratischen Terminus werden Nachkriegsverbrechen verdeckt, die in ihrer Art einzigartig sind - es geht hier um die Dimension eines Völkermords sowie um den größten Landraub der neueren Geschichte. Dabei galt dieses sogenannte „Abkommen“ selbst den Deutschen in der Emigration als ein Verbrechen. So verurteilte Hubertus Prinz zu Löwenstein, der Generalsekretär der American Guild for German Cultural Freedom, es mit äußerst scharfen Worten und zog eine Parallele zum Morgenthauplan: „Niemals waren Arroganz, Schamlosigkeit, Verrat von Grundsätzen, Dummheit und Schuld so eng mit einander verflochten ... Und dann reden sie von einem ’gerechten Frieden’ ! Das ist bewußter Betrug am amerikanischen Volk, welches all dies, wäre die ganze Wahrheit offenbar, nicht hinnehmen würde.“

Wer aber ist sich heute bei uns all dessen, was hinter diesen Geschichtsbegriffen bis in unsere Schulbücher und Medien hinein verborgen wird, noch bewußt? Was die offenbar völlige Erinnerungslosigkeit aufgrund solcher Geschichtsmanipulationen betrifft, so paßt hier die Karikatur, die der liberale Publizist Ulrich Sonnemann einmal von Deutschland zeichnete: Es sei nämlich „das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“. Etwas vornehmer hat dies der Zeithistoriker Christoph Kleßmann kürzlich wie folgt formuliert: „Aber auch westliche Demokratien, die sich dem Ideal der Zivilgesellschaft verpflichtet fühlen, sind in keiner Weise gegen die Manipulation der Regierenden und der suggestiven Verführung selektiver, politisch paßfähig gemachter Erinnerungen gefeit.“

Besonders anschaulich und aktuell wird solche „selektive, politisch paßfähig gemachte Erinnerung“ bei der Diskussion um das sogenannte „Zentrum gegen Vertreibungen“. Ganz abgesehen von der verunglückten, im Wege vorauseilender politischer Korrektheit völlig verharmlosenden Namensgebung - denn ein „Zentrum“ ist keine Gedenkstätte - käme, was seinen Standort betrifft, doch nur der Cecilienhof in Potsdam infrage, dem Ort dieses Menschheitsverbrechens. Aber dann müßte man eben sämtliche Beteiligten, die „Täter“, beim Namen nennen und wenigstens moralische Anklage erheben - und das will man nicht. Das ist schon sehr seltsam in einem Land, das sich doch sonst unablässig an Täter und Opfer erinnern soll.

Wie eingangs gesagt: Wir Deutschen sind Weltmeister im Erinnern wie im Vergessen - Voraussetzung ist allerdings, daß sowohl das eine wie das andere stets nur einseitig zu Lasten unseres Landes geht. Eine Mäßigung, eine realitätsnahe Verbindung von beidem - eine „Kunst des Erinnerns“ also - erscheint uns offenbar nicht möglich. Zurecht meine einst George Bernard Shaw, daß die Deutschen die tragische Eigenschaft besäßen, eine gute Sache immer so weit zu treiben, daß eine schlechte daraus wird. Und schon Martin Luther wunderte sich darüber, daß wir Deutschen sinnbildlich beim Reiten entweder rechts oder links vom Pferd fielen, geradeaus aber könnten oder wollten wir unseren Weg nicht finden. Diese Neigung zu den Extremen hat leider sehr konkrete Auswirkungen bis in die Gegenwart. Hier gibt es unübersehbare Tendenzen der Selbstzerstörung, deren Ausmaße ebenfalls einmalig in der deutschen Geschichte sind und über die sich eine späterer Generation genauso verurteilend empören wird wie die „68er“ und die heutige Generation über die Väter- und Großvätergeneration von 1933. In keinem Staat der Welt wäre - ohne den ständigen Hinweis auf 1933 - ein über Jahrzehnte anhaltender, insgesamt millionenfacher Asylmißbrauch und Asylbetrug möglich, auch keine millionenfache Massenzuwanderung bei Massenarbeitslosigkeit und Bankrott unserer Sozialsysteme. Auch würde nirgendwo eine so hohe Ausländerkriminalität derart servil hingenommen. Diese bewußt akzeptierte kriminelle Ausplünderung Deutschlands, die ebenso absichtliche Herbeiführung der Überfremdung unseres Landes, die extreme Beschädigung seiner sämtlichen Fundamente - der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen - ,all das ist nicht etwa eine Art Naturgesetz der Globalisierung, sondern die Strategie des „Nie wieder Deutschland!“

Da aufgrund von Feigheit und Opportunismus weder von der Politik noch von den Medien ein Gegensteuern zu erwarten ist - sie verschlimmern beide im Gegenteil weiter die Situation - , hätte diese systematische Zerstörung der Fundamente unseres Landes doch längst ein Fall für den Verfassungsschutz sein müssen. Aber auch hier ist leider das Gegenteil festzustellen: Verfolgt werden diejenigen, die noch die Zivilcourage besitzen, trotz aller Verdächtigungen und Diffamierungen die Wahrheit zu sagen und auf die Gefahren hinzuweisen. Da Propheten im eigenen Lande bekanntlich nichts gelten und der Verfassungsschutz aus ideologischen Gründen versagt, können unsere wenigen mutigen Warner und Mahner zumindest auf Unterstützung aus dem Ausland zählen. So hat der amerikanische Politikwissenschaftler (und Sohn österreichisch-jüdischer Emigranten) Paul Edward Gottfried diesem Thema ein ganzes Buch gewidmet. Es trägt den bezeichnenden Titel: „Multikulturalismus und die Politik der Schuld“. Seine These: Der angestammten Mehrheitsbevölkerung werden Scham- und Schuldgefühle für tatsächliche oder vermeintliche historische Untaten solange indoktriniert, bis ihre Widerstände gegen die multikulturelle Überfremdung ihrer Heimat erstickt worden sind. Manche dieser Thesen hat im übrigen schon Heinz Nawratil in seinem Buch „Der Kult mit der Schuld“ aufgegriffen. Hinsichtlich der demographischen Probleme Deutschlands verweist der israelische Historiker Martin van Creveld auf den folgenden, von Politik und Medien strikt tabuisierten Zusammenhang: „Ich vermute, daß der Vergangenheitsbewältigungs-Komplex mit ein Grund dafür ist, daß die Deutschen heute kaum noch Kinder bekommen ... De facto sind viele Deutsche bereits damit beschäftigt, ihre Identität loszuwerden ... Volk und Staat der Deutschen zu erhalten, dafür stehen, nüchtern betrachtet, die Chancen schlecht.“

Und der französische Autor Yves-Marie Laulan, Mitarbeiter der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, warnt in seinem gerade erschienenen Buch: „Allemagne. Chronique d’un Mort annoncé “(Deutschland. Chronik eines angekündigten Todes) vor einer „demographischen Implosion selbstmörderischer Art“. Weil es an Kindern fehle, sei Deutschland „unausweichlich verdammt zu einer langsamen Agonie auf allen drei Ebenen: wirtschaftlich, politisch, kulturell“. Er sieht in der demographischen Katastrophe Deutschlands eine „seelische Krankheit, die Krankheit zum Tode“. Ursache dafür sei nicht zuletzt, daß der Zweite Weltkrieg eine Nation hinterlassen habe „bis zum äußersten traumatisiert, in vitalen Funktionen durch die Trümmer des Krieges schwer verletzt“. Dieses Trauma werde durch die Dauerpräsentation der Vergangenheit, durch die ausschließliche Fixierung auf die NS-Zeit immer wieder aufs Neue aktiviert. Die Folge: „Niemand setzt Kinder in die Welt, wenn er nicht an die Zukunft der Nation und des Landes glaubt.“

So weit also haben wir uns von uns selbst entfernt, ja von uns selbst entfremdet! Hier schließt sich nun fast der Kreis - und zwar verhängnisvoll - von der eingangs erwähnten These, daß das Geheimnis der Erlösung Erinnerung heiße, hin zum Fluch einer übermäßigen und - im Wortsinn - überwältigenden Erinnerung für Gegenwart und Zukunft. Niemand hat diese negativen Auswirkungen leidenschaftlicher und genauer kritisiert als Friedrich Nietzsche, und zwar in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“: „Es gibt einen Grad von ... Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Konsequenzen zieht, entwurzelt die Zukunft ... Die historische Gerechtigkeit, selbst wenn sie wirklich und in reiner Gesinnung geübt wird, ist deshalb eine schreckliche Tugend, weil sie immer das Lebendige untergräbt und zu Fall bringt: ihr Richten ist immer ein Vernichten.“

Der Wiener Philosoph Rudolf Burger hat Nietzsches Gedanken, die ja Ende des 19. Jahrhunderts für die Deutschen keineswegs einen tragischen Hintergrund besaßen, sondern die ganz im Gegenteil während der Reichsgründungszeit selbstkritisch einem eher als zu positiv erlebten Historismus galten, für die völlig andere jüngste deutsche Zeitgeschichte fortgesetzt. In seinem Aufsatz: „Die Irrtümer der Gedenkpolitik. Ein Plädoyer für das Vergessen“ (Europäische Rundschau, Frühjahr 2oo1) weist er nach, daß über viele Jahrhunderte in den nach beendeten Kriegen geschlossenen Friedensverträgen das wechselseitige Vergeben und Vergessen von Untaten ein wichtiger Bestandteil gewesen sei. Nur so könne man unbelastet den Frieden gestalten.

Wir Deutschen können allerdings kein Plädoyer für das Vergessen halten. Aber wir sollten mit Blick auf die kaum noch zu bewältigenden Gegenwarts- und Zukunftsprobleme den andauernden Blick in die Abgründe der Vergangenheit mäßigen. Thorsten Hinz warnt ebenfalls vor einem Übermaß von Selbstanklagen und ihren Folgen. Auschwitz und der Holocaust seien mittlerweile zu den dominanten Erinnerungsbildern deutscher Geschichte geworden und damit zu einem kollektiven Selbstbild: „Begleitet wird das von einer Sakralisierung, die keinen Widerspruch duldet ... dieser Prozeß ist für Deutschland hochproblematisch, denn das schlimmste Verbrechen, das von den Deutschen begangen wurde, in den Mittelpunkt des nationalen Selbstbildes zu stellen, bedeutet, den eigenen Unwert zur zentralen Kategorie der kollektiven Identität zu erheben. Wer das tut, signalisiert, daß er seine Existenz innerlich als beendet ansieht. Er wird zum Zombie.“

Wir müssen endlich auch zu einem Erinnern und Gedenken finden, das keine neue „Klassengesellschaft“ der Toten und Opfer kennt - dabei sollten jeweils Ursachen, Schuld und Täter durchaus benannt werden. Und wir müssen schließlich einen Weg finden aus dem Dilemma des bisher ebenfalls tabuisierten und viele Menschen tief verletzenden Widerspruchs zwischen einerseits den öffentlichen volkspädagogischen Gedenkritualen hierzulande und andererseits den allzu oft abgewiesenen, verleugneten, ja diffamierten privaten Erinnerungen an das erlittene persönliche oder familiäre Leid. Ein solcher Weg bedürfte gar nicht einer „Kunst des Erinnerns“, sondern nur des humanen Anstands. Michael Wolffsohn, Historiker an der Universität der Bundeswehr in München - der sich selber als einen deutsch-jüdischen Patrioten bezeichnet - hat in seiner Ansprache zum Volkstrauertag 1996 in der Frankfurter Paulskirche dazu Folgendes gesagt: Es sei moralisch nicht mehr hinnehmbar, daß „das millionenfache individuelle Leid von Deutschen, z.B. Flucht, Vertreibung oder der Bombenhagel auf Zivilisten, tabuisiert, minimiert oder nicht ernst genommen wird ... Mit ‚Aufrechnung’ oder gar Verharmlosung der vorangegangenen deutschen Verbrechen hat dies nichts zu tun, alles aber mit Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Vollständigkeit, Seele und Mitgefühl.“

Michael Wolffsohns Schlußfolgerung daraus könnte als eine vor allem für das immer noch schwierige deutsch-jüdische Verhältnis des Erinnerns sinnerfüllte und versöhnende Orientierung gelten - nämlich: „Wer nicht die Toten des eigenen Volkes betrauert, wird erst recht nicht die Toten anderer Völker betrauern. Wer hingegen eigenes Leid kennt und öffentlich benennt, der wird auch daß Leid anderer eher nachfühlen können und wollen.“
 

Quelle:
Deutschland-Journal 2005
Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft, Hamburg, 25.04.2005,
www.swg-hamburg.de/Geschichtspolitik/Die_Kunst_des_Erinnerns/die_kunst_...

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weitere Informationen:
Wie man aus Helden Verbrecher macht
Antifa-Gruppe beschmutzt das Andenken an U-Boot-Kommandant Günther Prien
http://www.webarchiv-server.de/pin/archiv03/1503ob04.htm
www.swg-hamburg.de/Armee_im_Kreuzfeuer/Wie_man_aus_Helden_Verbrecher_macht.pdf
 


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